Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben
Dämmerlicht, in d em sich eine Unzahl aus der Verankerung gerissener Generatoren und verkeilter Zahnräder abzeichnete. Hier war heftig gekämpft worden.
Mehr als zwei oder drei Wochen konnte es nicht her sein, und doch steckten nur noch Knochen in den meisten der vermoderten Uniformen, aus denen aufgeschreckte Ratten huschten. Auf den quer verlaufenden Eisenträgern g rinsten lippenlos Totenköpfe unter Stahlhelmen. Öl, Wasser, Schlamm und fauliges Blut bildeten auf dem Boden eine klebrige, knöcheltiefe Flüssigkeit.
Gross gab ein Handzeichen, und alle blieben stehen, gingen in Deckung. Das leise Trippeln, Rascheln und Kriechen der Ratten wurde durch das Geräusch von Schritten überdeckt. Vier Russen mit zwei Tragen tauchten ziemlic h sorglos hinter einem der Generatoren auf und steuerten direkt auf sie zu. Der Leutnant rief sie aus der Deckung an. »Rukki werch!«
Die russischen Sanitäter blieben erschrocken stehen. Sie waren unbewaffnet. Unsicher suchten ihre Augen die Dunkelheit ab. Sie zögerten, die Tragen mit den Schwerverwundeten in den Dreck zu stellen. »Sagen Sie ihnen: Hände hoch, oder wir schießen«, zischte der Leutnant.
Gross übersetzte, die Russen senkten die Tragen in den Dreck und hoben die Hände. Einer begann hastig zu reden.
»Er sagt, hier seien nur Sanitäter, das Haus über uns hätte einen Volltreffer gekriegt«, flüsterte Gross.
»Der kann mir viel erzählen«, gab der Leutnant zurück und befahl Gross, einen der Russen mit erhobenen Händen näher kommen zu lassen. Er legte seine eigene verdreckte Uniformjacke ab, zog sie dem verblüfften Russen über und stülpte ihm seinen Helm auf den Kopf. Dann ließ er den Russen über Gross wissen, dass er in diesem Aufzug bis zu den deutschen Linien vor ihnen hergehen sollte. Wenn es stimmte, dass der Weg frei war, würde man ihn anschließend laufen lassen, wenn nicht, wäre er der Erste, auf den seine Landsleute schießen würden.
Der Sanitäter nahm es wortlos zur Kenntnis.
Fritz hatte inzwischen die Decken von den russischen Verwundeten genommen, um sie nach Waffen zu durchsuchen. Plötzlich beugte er sich tiefer und starrte entsetzt in ein junges, im Dämmerlicht fahl leuchtendes Gesicht. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Es war das Mädchen aus dem Granattrichter.
Wo sich früher ihr rechter Arm befunden hatte, war nur noch ein hässlicher Fleck, aus dem Blut sickerte.
Unfähig, sich zu rühren, stand Fritz einfach nur da und starrte auf das zerrissene Bündel Mensch, auf jene junge Frau, deren Bild er in einem der letzten Winkel seines Herzens vergraben hatte, der noch nicht vom Krieg verschüttet war.
»Wenn sie Waffen gebunkert haben, leg sie um!«, sagte Rollo hinter ihm. Er packte den Dicken unsanft am Arm. »Los, we iter!«
Fritz hörte ihn nicht. Regungslos starrte er das Mädchen an, das leise zu wimmern begann, als täte sein Blick ihm weh. Mühsam öffnete sie die Augen.
»Kennst du sie?«, fragte Hans.
Fritz schüttelte den Kopf. Lautlos weinend ging er wieder zu der Trage, auf der Herbert lag.
»Das sind die Nerven«, flüsterte Rollo Bubi zu. »Irgendwann ist es einfach zu viel. Gibt sich wieder.«
Der Leutnant zwang den russischen Sanitäter, in seiner Uniform vorauszugehen. Der Weg führte durch einen weiteren Gang, dann ging es eine halb zerstörte Stahltreppe nach oben, in den Unterleib einer lang gestreckten Ruine.
Plötzlich wurden sie auf Deu tsch angerufen. »Halt, wer da?«
»Kampfgruppe von Wetzland!«, rief der Leutnant hastig zurück. »Zweite Kompanie, 305. ID. Nicht schießen!«
Ein deutscher Gefreiter tauchte hinter einem Mauervorsprung auf, die MPi im Anschlag.
Der Leutnant nahm dem Russen seine Jacke und den Helm ab und schickte ihn zurück in den Gang. Der Gefreite sah ihn erstaunt an.
»Trau niemandem«, flüsterte der Leutnant und fühlte, wie seine Knie zu zittern begannen. »Nicht mal deiner eigenen Mutter.«
Er musste sich an dem Gefreiten festhalten, um nicht vor Erschöpfung umzufallen.
Nach einer kurzen Wegbeschreibung zur nächsten Verwundetensammelstelle trotteten sie weiter. Auf Herberts Gesicht lag bereits die gelbe Farbe des Todes.
Sie traten ins Freie und sahen den ersten Schnee in diesem Winter. Schwere nasse Flocken wurden von einem scharfen Wind aus dem bleigrauen Himmel getrieben. Das Licht erschien ihnen trotzdem so hell, dass sie für einen Moment schmerzhaft geblendet die Augen schlossen.
Ihre Stiefel rutschten über aufgeweichte Wege. Bubi und Fritz wurden
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