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Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben

Titel: Stalingrad - Die Einsamkeit vor dem Sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Fromm
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vergiften drohten – genau so, wie er und alle intelligenteren Köpfe in der Armeeführung das seit dem Spätsommer prophezeit hatten. Wer den General genau kannte, dem entging trotz des Ausmaßes der Katastrophe nicht die leise Genugtuung in seiner Stimme.
    »Nachdem die Russen vorgest ern im Norden aus ihrem Brückenkopf bei Kletskaja die rumänischen Linien durchbrochen haben, ist ihnen jetzt auch im Süden, trotz guter Anfangserfolge der 29. ID gegen die 57., der Durchbruch gelungen. Es ist anzunehmen, dass sie heute bei Kalatsch den Sack zumachen. Dann sitzen wir in der Falle, meine Herrn.«
    Der Posten trat flüsternd neben Musk. Der Hauptmann nickte und folgte ihm in den Vorraum, wo Hans inzwischen wartete.
    Trotz der Nähe eines Ofens zitterte er in seiner durchnässten Uniform am ganzen Körper. Der Hauptmann grüßte auffallend kühl. Hans war zu erschöpft, und seine Erleichterung war zu groß, um es zu bemerken.
    »Herr Hauptmann!«, rief er. »Ich bitte Sie, mir zu helfen! Ein Teil der Gruppe ist verhaftet worden. Oberstleutnant Haller …« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn, weil so viel zu erzählen war und er das alles in möglichst kurze Worte fassen musste. »Wir hatten einen Schwerverwundeten , Geiger, aber Reiser ist durchgedreht, hat Haller bedroht, aber ich bin schuld, ich habe ihn geschlagen …«
    »Können Sie keine vernünftige Meldung machen?«, unterbrach ihn Musk.
    Hans starrte ihn ungläubig an. Dieser Mann musste doch begreifen, was sie durchgemacht hatten. »Herr Hauptmann, wir sind eingeschlossen worden …«
    »Die gesamte sechste Armee ist eingeschlossen worden«, erwiderte Musk schneidend. »Laufe ich deswegen etwa stammelnd durch die Gegend?« Seine grauen Augen fixierten kalt den jungen Leutnant. »Aber ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Sie etwas zu labil für Ihre Aufgabe sind. Dieser Eindruck hat sich seit dem Telefonat mit Ihrem Onkel eindeutig bestätigt.«
    Hans glaubte für einen Moment, den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Mein Onkel hat … mit Ihnen … gesprochen?«, brachte er mühsam hervor.
    »Offen gesagt, wir waren beide ziemlich konsterniert über die Bitte, die Sie über Ihre Frau Mutter haben vortragen lassen. Um es ganz klar zu sagen, Sie sind ein Feigling, Herr von Wetzland.«
    »Das bin ich nicht«, flüsterte der Leutnant. Wirre, unzusammenhängende Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Ja, er war zunächst feige gewesen, aber dann nicht mehr. Er hatte sich doch bewährt, wenn auch nur aus Angst. Aus Angst vor der Heimat, aus Furcht vor sich selbst und seiner Schwermut. Man tat doch alles aus Angst, man war ein Feigling aus Angst, aber auch ein Held. Doch wie sollte er das diesem Mann erklären, der kein Mensch war, sondern ein Denkmal unbeugsamer Härte?
    Undeutlich hörte er, wie das Denkmal sprach: »Sie wollten Ihren Onkel durch Ihre Mutter dazu bringen, Sie versetzen zu lassen. Sie wollten in schwerster Stunde Ihre Männer im Stich lassen. Glauben Sie denn wirklich, Ihr Onkel würde so etwas zulassen? Er lässt Ihnen ausrichten, der Tod fürs Vaterland sei immer besser als der Tod im Bett.«
    Hans wollte aufschreien, seine Hände um den Hals unter diesem schrecklichen, selbstgerechten Gesicht legen und solange zudrücken, bis es wenigstens einmal die Fassung verlor, aber damit wäre sein Schicksal endgültig besiegelt gewesen.
    »Herr Hauptmann, vielleicht war ich wirklich ein Feigling. Aber bitte, tun Sie etwas für unsere Män ner. Wir kommen alle vors Standgericht. Ich habe die Selbstbeherrschung verloren. Ich … ich habe Haller … Oberleutnant Haller niedergeschlagen.«
    Musk nickte unmerklich. Er hatte geahnt, dass es nicht gutgehen würde mit dem jungen Leutnant. Natürlich hatte er an einen ehrenvollen Tod auf dem Schlachtfeld und nicht an ein derart ärgerliches Ende gedacht. Es war nicht gut, wenn Söhne ohne ihre Väter aufwuchsen. Er nahm sich vor, die Schande der Exekution vor der Familie zu vertuschen.
    »Sie und Ihre Männer haben die Stellung, die Sie hätten halten müssen, eigenmächtig verlassen und sich d amit meinem Befehl widersetzt. Sie haben einen Vorgesetzten tätlich angegriffen. Ist Ihnen das alles eigentlich klar?«
    Hans schwieg. Er wusste, dass Musk recht hatte, obwohl er sich plötzlich an alles nur noch wie an eine Erzählung erinnern konnte, so als wäre er gar nicht dabei gewesen. Undeutlich hörte er Musks Stimme, die alles, was ihm so verschwommen, so unklar war, unerbittlich und sachlich

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