Stalins Kühe
Mutter im Garten Kornblumen, die estnischen Nationalblumen, zog und sie in Vasen überall im Haus verteilte und die estnischen Bücher aus dem Lagerraum zurück ins Regal stellte, hatte sich ihre Einstellung zu bestimmten Dingen nicht geändert. Sie beschwor mich immer noch, nicht alles über meine Herkunft preiszugeben. Damit man mich nur nicht für eine estnische Hure hielt, obwohl ich offensichtlich alles tat, um als genau das abgestempelt zu werden, indem ich meine Wohnung mit dem Geruch von Sauerkraut und mit schummerigem Licht, Schuhen mit hohen Absätzen und rotem Nagellack füllte. Und warum an meiner Garderobe ein Pelz hänge und mein Wintermantel einen Pelzkragen nach russischer Art habe? Demonstrativ zeigte Mutter auf der Mädchenstraße von Kallio auf eine Hure mit Fuchspelzmütze und – kragen. Warum ich genauso aussehen wolle? Mutter ließ die Erklärung, dass heute auch die Finnen solche Accessoires verwenden, nicht gelten.
1952
Leeve bekommt die Möglichkeit, als Köchin des Kolchos zu arbeiten. Für diese Tätigkeit ist die zarte Leeve physisch besser geeignet, aber eine andere Frage ist, woher sie die Lebensmittel für das Essen nehmen soll. Und das Geschirr? Eine fast zur Hälfte abgesägte, verrostete Eisenschüssel und eine etwas kleinere zum Kochen von Brei, damit muss sie auskommen.
Jemand bringt ein Fass mit Fleisch in Leeves Küche, aus dem sie Suppe kochen soll, aber nachdem Leeve das Fass geöffnet hat, ist sie gar nicht so sicher, dass das gelingen wird. Das Fass ist voller gespaltener Ochsenköpfe. Salz ist ihnen wohl irgendwann beigegeben worden, aber das Salzwasser ist schon vor Zeiten ausgelaufen. Der Gestank ist das Fürchterlichste, was Leeve jemals gerochen hat oder riechen wird. Aber Suppe muss sie machen. Den ganzen Tag weicht Leeve die Ochsenköpfe ein, legt am Abend kleine Stückchen, die sie davon abgeschnitten hat, in den Topf, fügt Wasser und ein paar vertrocknete Kartoffeln hinzu, etwas anderes ist nicht da. Die von der Arbeit zurückkehrenden hungrigen Menschen loben Leeve für die gute Suppe.
Leeves Kochbuch ist schlicht: Kartoffelsuppe wird aus Kartoffeln und Wasser, Mehlsuppe aus Wasser und Mehl, Kohlsuppe aus Wasser und Kohl gekocht. Brot wird aus Unkrautsamen, Beifuß und Spelzen gebacken und mit Mehl gewürzt. Sauerampfersuppe wird aus Sauerampfer und Wasser, Brennnesselsuppe aus Wasser und Brennnesseln bereitet.Brennnesseltee aus Brennnesseln und Wasser, Beerentee aus getrockneten Beeren und Wasser.
Brot gibt es in Leeves Kolchos fünfhundert Gramm pro Tag. In manchen Kolchosen beträgt die Brotration nur zweihundert Gramm, sodass die Menschen, die von Leeve ernährt werden, es gut haben. Aber es gibt Gerüchte über Kolchosen, wo man tausend Gramm Brot bekommt! Alle träumen davon, in einen solchen Kolchos zu kommen.
DER
ARZT
SCHLUG vor, ich solle für einige Wochen in die Klinik Lapinlahti gehen – zum wievielten Mal habe ich die Behandlung abgebrochen und wieder begonnen? –, nur um das Essen zu üben. Vielleicht für einen Monat. Ich könnte es wenigstens als Tagespatientin versuchen. Um zu einem Essrhythmus zu gelangen.
Von den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern hatte ich schon zwei Jahre lang die Höchstmenge genommen, und das hatte meine Essattacken nicht beendet. Mein Essarzt sagte, er verstehe gut, dass ich nicht auf das verzichten wolle, was mir so großen Schutz gegeben und einen so großen Teil meines Lebens ausgemacht habe. Dass aber die Situation längst nicht so düster sei, wie ich es mir einbildete – so als hätte ich mir das eingebildet, ich wusste es doch!
Ich wusste alles nur Mögliche über Essstörungen, ich hatte alles gelesen, alles geprüft, ich wusste Bescheid. Ich brauchte die Bulimievorlesungen und Ernährungstherapien nicht – ich hätte sie vielleicht vor zehn Jahren gebraucht, aber jetzt nicht mehr. Ich war zu alt. Die anderen, die in der Klinik herumliefen, waren in einem anderen Jahrzehnt geboren. Natürlich war mein Wissen eurer Ansicht nach nur eine für Leute wie mich typische Arroganz. Aber ihr ließt mich Testbogen ausfüllen, die Anhänge von Handbüchern für die klinische Behandlung waren, die ich gelesen hatte. Ich hatte die Anleitungen für Therapeuten gelesen, wie er sich einem Patienten gegenüber verhalten soll, wie die ganze Familie des Patienten ein Patient ist.Ich hatte all die Tests gelesen, in denen auf zehn verschiedene Weisen gefragt wird, ob ich meine Hüften zu breit finde. Ihr gingt nach diesen
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