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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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desLebens oder der Straße ist. Ein akademischer Abschluss stand natürlich an erster Stelle auf ihrer Wunschliste. Und man musste einen Abschluss haben. Mutter wurde nicht müde, das zu betonen. Ich glaubte auch selbst an die Macht der akademischen Bildung, bis ich sie aufgeben musste, weil ich nicht einmal die allereinfachsten Handlungen beherrschte, Dinge, die die Menschen schon als Säugling kennenlernten und sich aneigneten.
    Wo ich doch die Chance dazu hatte. Die durfte ich mir doch nicht entgehen lassen. Mutter sagte, ohne akademischen Abschluss sei der Mensch nichts, er sei dann nicht mal ein Mensch. Vati saß daneben, und er hatte nicht einmal das Gymnasium besucht.

1951
    Bei einem Besuch in der Stadt hört Sofia, dass die Russen wieder eine größere Verschleppungsaktion planen und dass auf der Liste jetzt auch Arnolds Name steht. Sofia fährt in solchem Tempo nach Hause, wie das Pferd nur laufen kann, lädt die Kinder und Lebensmittel auf den Wagen und fährt los, von Arnold gibt es zu Hause keine Spur, bestimmt hat er von der Sache Wind bekommen und ist in den Wald gegangen. Sofia bemüht sich, ihr Pferd noch mehr anzutreiben, bis sie an der Straßenkreuzung begreift, dass sie nicht weiß, welche Richtung sie einschlagen, wohin sie eigentlich fahren soll, wo sie überhaupt mit zwei kleinen Kindern im Wagen hinsoll, auf dem die leeren Milchkannen scheppern, weil sie nicht dazu gekommen ist, sie vorher abzuladen, was, wenn man sie erwischt, was würde dann mit den Kindern geschehen, sie kann nicht versuchen zu flüchten, sie kann nicht einmal in die Pagari-Straße zum Verhör gebracht werden, was würden sie mit den Kindern machen, sie kann die Kinder nicht mit in den Wald nehmen, um in irgendeinem Unterstand darauf zu warten, dass die Russen kommen und sie erschießen. Nein, sie hat einfach keinen Ort, wo sie hingehen kann.
    Als Sofia nach Hause zurückkehrt, kommt Arnold ihr entgegen, er hat nichts gehört.
    Falschen Alarm gibt es noch viele Male.

MUTTER
RIEF
IN der Volksrentenanstalt an und erfuhr, dass meine Studienbeihilfe gestrichen worden war. Sie war immer schon sehr gut darin, alle möglichen Informationen über mich zu bekommen, und dafür brauchte es nichts weiter als meinen Namen und ein wenig Ausdauer.
    Mutter verstand nicht, was ich eigentlich in Helsinki machte, da ich offensichtlich nicht studierte. Das Mädchen ist krank, dachte Mutter. Das Mädchen braucht Hilfe. Mutter wollte sich nicht eingestehen, dass sie mehr als zehn Jahre zu spät kam. Außerdem bestand das einzige Symptom, das sie sah, darin, dass ich keine Vorlesungen mehr besuchte und mich nicht auf Prüfungen vorbereitete, wie ich es in dem typisch finnischen Dorf getan hatte.
    Sobald sie die Sache mit der Studienbeihilfe erfahren hatte, kam Mutter zu Besuch. Sie fand auf den Fußböden eigentümliche Kassenbons von Lebensmitteln und hinter den Fußleisten alles Mögliche. Früher hatte ich mich immer bemüht, solche überflüssigen Informationen vor ihrem Besuch durch Hausputz zu beseitigen. Jetzt aber kam sie ohne Vorankündigung und war aufmerksam, aufmerksamer, am aufmerksamsten, denn jetzt war sie absolut der Meinung, dass etwas nicht stimmte. Sonst hätte ich mein Studium ja wohl nicht abgebrochen, oder?
    Da sie nicht verstand, was los war, wurde alles, was sich in meiner Wohnung befand, zu etwas, was möglicherweise gefährlich war.

    Ich hatte doch nicht ein Kilo Hackfleisch allein aufgegessen, das wolle ich doch wohl nicht behaupten.
    Für wen kochte ich? Wessen Magd spielte ich?
    Ich war zu mager, als dass ich solche Mengen von Lebensmitteln hatte vertilgen können.
    Und wie erklärte ich, dass eine Zwei-Kilo-Tüte Mehl, die voll gewesen war, als Mutter mich vor zwei Wochen besucht hatte, jetzt leer war? Ebenso waren die zwei Kilo Zucker, die sie mir damals auf Vorrat gekauft hatte, jetzt aufgebraucht.
    Ob ich jemanden durchfütterte?
    Dass von allen Frauen der Welt ausgerechnet ich angefangen hatte, Vater, Mutter, Kind zu spielen!
    Meine Putzaktionen vor einem Besuch meiner Mutter bestanden nur aus dem Verstecken von Rezepten und Kochspuren. Vom Sozialismus hatte sich ihr nichts anderes eingeprägt als die Vorstellung von der Frau als gleichberechtigter Kameradin am Spaten und beim Traktorfahren. Obwohl Vati manchmal versuchte, anzudeuten, dass es gut für mich wäre, kochen zu lernen, schließlich wird sie ja irgendwann mit jemandem zusammenwohnen , ließ Mutter mich in der Küche nichts anderes machen als Kaffee

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