Stalins Kühe
Grenze trug, in einem losen Dutt, denn Dutte und Zöpfe mit großen Schleifen gehörten für mich in Tallinn nicht mehr zu den verbotenen Frisuren, da sie jetzt ebenso von den jungen finnischen Frauen wie von den Estinnen getragen wurden, freilich nach einer moderneren Art, mit Fransen und Clips.
Anstelle von Russisch hörte man in Tallinn hauptsächlich Finnisch. Besonders an stilleren Tagen, am Sonntag, gab es raschelnde Trainingsanzüge und Bierkarren, mit denen man die erlaubten fünfzehn Liter nach Finnland brachte, oder waren es dreißig Liter? Oder sechzehn?
Das Kreuzfahrtschiff war voller stark betrunkener Rentner gewesen. Auch Vati fühlte sich auf den Tallinn-Kreuzfahrten nicht mehr wohl, weil das Durchschnittsalter der Kreuzfahrer stark gestiegen war, und befahl Mutter, eine volle Bierladung mitzubringen, wenn sie auf der anderen Seite der Bucht einen Besuch machte. Die grauköpfigen, schrill und meckernd keckernden Frauen hatten in den Gängen des Schiffs gesessen und ihre Bierdosen geleert, die in Plastiktüten neben ihnen lagen. Sie hatten den vorübergehenden muslimischen Frauen Frivolitäten und Kameltreiberwitze hinterhergerufen. Sie waren mit den Fahrstühlen rauf- und runtergefahren und hatten nicht gewusst, wo sie aussteigen sollten, hatten auf den Treppen gefährlich geschwankt und die Toiletten ihrer Kabinen verstopft. Die alten Männer in ihren Sonntagsanzügen hatten den Frauen zugesehen und im Hafen von Tallinn versucht, mich zum Lachen zu bringen. Ich war auf dem Schiff die jüngste alleinreisende Finnin gewesen und während der Fahrt wohlweislich in meiner Kabine geblieben. Als ich einkaufen ging, musste ich statt des Fahrstuhls die Treppen benutzen, denn eine finnische Frau mittleren Alters und von beträchtlichen Ausmaßen hatte sturzbetrunken vor der Fahrstuhltür gelegen und ab und zu ein Wort von sich gegeben. Das Personal war über die Frau hinweggestiegen und um sie herumgegangen, nur einige Reisende hatten sie mit langen Blicken bedacht, aber niemand hatte sie angesprochen oder Hilfe geholt. Die Frau hatte nichts anderes angehabt als einen schwarzen Büstenhalter. Sie hatte dort immer noch gelegen, als wir in den Hafen einfuhren und die Ausschiffung begann. Die Bierkarren machten einen Bogen um sie, die Kinder sprangen übersie hinweg, der eine Träger ihres Büstenhalters war herabgerutscht, aber sonst gab es keine Veränderung.
… ein finnischer Mann mittleren Alters spricht über die strahlenden Augen seiner estnischen Liebsten und empfiehlt auch seinem Freund eine estnische Frau, die noch aussieht wie eine Frau, anders als die finnischen Weiber, die vollkommen vergessen haben, dass es Röcke gibt … In Finnland erkennt man Männer aus dem Osten daran, dass sie noch den leuchtenden Blick haben, solche unverfrorenen Blicke, selbstsichere Eroberer, die zu sein sie sich gegenüber einer finnischen Frau niemals einbilden würden, das Schrumpfen geschieht allmählich, bei den Männern aus Helsinki bei jedem Meter, und wenn sie vom Hafen ins Zentrum kommen, sind sie wieder so klein wie bei ihrer Abreise, zusammengefallen und ausweichend, bei solchen, die von weiter her gekommen sind, hält die Stimmung auch noch im Restaurantwagen des Zuges an …
Solche Zigarettenfahrten und kleine Trips zur Aufmunterung machte ich immer häufiger. Immer, wenn Hukkas fordernde Befragungen mich zu sehr nervten, wenn die ausbleibenden Antworten das Atmen erschwerten, machte ich mich auf den Weg, stürmte in den Hafen und fuhr davon. Das Essen bot nicht mehr immer ausreichende Abhilfe – und außerdem war es billiger, Lebensmittel, Medikamente, Zigaretten und Alkohol dort einzukaufen.
Bei jeder Reise bemerkte ich, dass von meiner Welt immer weniger Merkmale übrig waren, was meine Reisetätigkeit intensivierte. In meiner Unersättlichkeit musste ich häufiger fahren als seit Jahren. Lange Zeit war ich nur einmal im Jahr, und zwar im Sommer, gefahren, dann hatte es eine Pause von einigen Jahren gegeben, als ich zu Hause auszog und wegen meiner Essgewohnheiten nicht mit Mutter fahren wollte und auch nicht allein, und Irene war nicht mehr da. Als ich nach der Pause wieder nach Estland kam, erschrak ich und war entsetzt; ich konnte niemalswissen, ob ich dieses Haus und jenen Platz in seinem gegenwärtigen Zustand zum letzten Mal sah. Ich trauerte jedem abgerissenen Holzhaus und den vergilbten Spitzengardinen vor den Fenstern nach, jede neue Werbung blendete mich, obwohl ich dieselben in Helsinki
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