Stalins Kühe
Anleitungen vor, und sie boten nichts Neues für mich, die ich mich um das Normalgewicht herum bewegte und volljährig war, deren Bild vom Körper nicht verzerrt war und die ihre Bulimie nicht verabscheute. Die nach Kräften Kalk und andere Vitamine zu sich nahm.
Meines Erachtens war das Einzige, was ich tun konnte, das Verhältnis zu meinem Herrn so zu stabilisieren, dass es nicht rauf und runter, zur Seite und über Kreuz ging, sondern stabil blieb. Danach lohnte es sich zu streben, ihr aber schobt mir nur katzengoldene Hoffnung zu und verlort zugleich eure Glaubwürdigkeit.
Im Alter von einem Vierteljahrhundert war ich nicht bereit, geistig dorthin zurückzukehren, wo meine erste Diät begonnen hatte. Als erwachsene Frau wollte ich nicht sagen, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wer oder was ich ohne meine Bulimarexie war. Dass es mich nicht ohne sie gab. Dass ich mich an nichts freuen konnte ohne die darauffolgende Essorgie. Dass ich über nichts trauern konnte ohne einen Schrank voll Orgienlebensmittel. Dass ich mich ohne das nicht entspannen, nicht konzentrieren, nicht lieben konnte. Weinen war das Einzige, was ich ohne Fressflash konnte. Ein Weinen, wenn es nur heftig genug war, ließ mich an Essen nicht einmal denken, aber danach gelang ein Essritual dann durchaus.
Was habe ich bloß all die Jahre in der Therapie gemacht, da ich keinerlei Voraussetzungen hatte, aufzuhören?
Eine typische Bulimikerin hätte gemeint, dass ich Nichtsnutz jemand anders den Therapieplatz wegnahm, obwohl ich selbst ihn nicht wirklich brauchte, da ich nicht litt und nicht kuriert werden konnte. Eine typische Bulimikerin hätte auch allerschlimmste Schuldgefühle verspürt bei einem Spendenaufruf für die Welthungerhilfe sowie immerdann, wenn im Fernsehen von einer Hungersnot und von der Notwendigkeit humanitärer Hilfe die Rede war oder wenn die älteren Menschen von der Notzeit sprachen. Die hungernden Kinder von Afrika werden in jeder Überlebensgeschichte über Essstörungen und in jeder Moralität erwähnt, denn das sind sie ja alle.
Aber das war mir scheißegal. Die afrikanischen Kinder mit den aufgeblähten Bäuchen assoziierte ich mit meiner Essstörung erst, nachdem ich in den Büchern über Essstörungen gelesen hatte, dass meine Kollegen sich Selbstvorwürfe machten, wenn sie an die Hungersnöte dachten. Die instabile Ernährungswirtschaft der Sowjetunion assoziierte ich nicht mit meinem Essen, bevor mich jemand fragte, wie groß meine Schuldgefühle eigentlich gewesen seien, die ich deswegen gehabt hatte. Ich hatte niemals ein schlechtes Gewissen gehabt wegen der ins Klosettbecken rinnenden Brotkilos und Pfannkuchendutzende. Ich spendete keinen Penni. Ich war nicht schuldig, und ich fühlte mich nicht schuldig. Wieder etwas, das nicht in die Diagnose passte.
Was hat es für eine Bedeutung, wo jemand unter einer Hungersnot leidet? Oder wann? Es bleibt eine Hungersnot. Der Hunger bewirkt, dass die Menschen sich immer gleich verhalten, dieselben Symptome bekommen, sich mit demselben Fanatismus auf Mehl stürzen und es direkt aus der Tüte essen oder an gefrorenem Hackfleisch nagen. Die Welt eines hungrigen Menschen ist immer so groß wie ein Teller, unabhängig von Geschlecht, Alter, Land, Hautfarbe, Sprache oder Jahr.
Mein Therapeut meinte, ich müsse mich ganz fürchterlich gefühlt haben, damals, als meine Verwandten jenseits der Grenze vor leeren Ladentischen stehen mussten und ich gleichzeitig alles hatte.
Aber ich hatte nicht alles gehabt.
Meine Welt war ja anderswo.
Warum erzählt ihr mir immer wieder, Essen sei alles? Denn mein Herz weiß, dass es nicht so ist.
1952
Name?
Alter?
Wohnort?
Zwei Kinder, nicht wahr? Katariina und Linda …
Nachbarn?
Welche davon schützen Banditen?
Ihnen ist ja wohl klar, dass die Banditen Verbrecher sind?
Wer von ihnen schützt Banditen?
Wessen Verwandte sind unter die Banditen gegangen?
Das wissen Sie nicht? Sie scherzen doch, Genossin Sofia. Uns ist nämlich bekannt, dass Ihr eigener Bruder Elmer ein Bandit ist. Ihr eigener Bruder ist ein Verbrecher geworden, oder? Das wissen Sie nicht? Wissen Sie denn, Genossin, was Ihr lieber Bruder eigentlich getan hat? Er hat ganz entsetzliche Dinge getan. Er hat wehrlose Menschen abgeschlachtet, Frauen und Kinder in ihren Häusern verbrennen lassen, Läden und Züge ausgeraubt, Wahlen sabotiert und den Staat verunglimpft. Verleumdung? Wir haben mehrere Zeugen.
Das glauben Sie nicht? Na, wir glauben es, wir haben mehr
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