Stalins Kühe
Kleiderkonfektion gelang es nicht, den Mythos von einer Figur zu schaffen, wie jeder sie haben sollte, wie aber nur wenige Menschen sie hatten, so wie in den westlichen Ländern. In der Sowjetunion gab es ja nicht einmal Modellpuppen, und die einzigen in Estland fanden sich im Schaufenster des Tallinner Kaufhauses Kaubamaja.
1952
Katariina genießt es, bei den Remmels im Wohnzimmer zu spielen, denn dort gibt es herrlich weiche Sofas und Sessel. Auf denen kann man herumspringen, wenn die Eltern nicht da sind. Sie sind gut gefedert.
Die Mädchen der Remmels haben wunderschöne Kleider. So schöne, dass die Leute sich in der Stadt danach umdrehen. Als Katariina ein wenig älter ist, flüstert Sofia ihr zu, dass die Remmels die Kleider aus dem Haus der Rõugs geholt haben, nachdem Aino und Eduard Rõug mit ihren Kindern nach Sibirien gebracht worden waren. Mehr als diese geflüsterten Worte wird über die Sachen nicht gesprochen, obwohl alle es wissen. Wer was aus wessen Haus geholt hat. Was aus welchem Speicher »geholt worden ist« – niemals gestohlen, ausgeräumt, geraubt, immer nur »geholt«.
Karla ist freilich in so vielen Häusern gewesen, dass niemand hätte sagen können, wem all die Dinge gehört hatten, von denen sein Haus voll war – man wusste nur, dass in Karlas Haus mehrere Zimmer verschlossen und die Fenster dieser verschlossenen Zimmer verhängt waren und dass darin meistens kein Licht zu sehen war. Kein Besucher bekam Zutritt zu diesen Räumen. Karlas Frau Elfriide brachte allerdings ihrer Schwiegermutter, Arnolds Mutter, viele Jahre lang Schafwolle, und die spann daraus Strumpfgarn, um sich so Geld für ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nur hatte es in Karlas und Elfriides Haushalt niemals Schafe gegeben, auch später nicht, und soweit bekannt, hat Elfriide auch nirgends welche gekauft. Für dieses Geld wurden für Katariina neue Schulschuhe gekauft. Und Katariinas Großmutter trat das Spinnrad und ließ es schnurren und trat das Spinnrad und ließ es schnurren und trat das Spinnrad und ließ es schnurren mit kalten Händen bis zum Ende und vergaß nie, Elfriide, ihrer Lieblingsschwiegertochter, in den Tee, den sie ihr servierte, einen Heiligenschein zu spucken. Genau so, wie sie es seinerzeit mit dem Tee der russischen Soldaten gemacht hatte, die in ihrem Haus einquartiert gewesen waren. Und bei jeder Gelegenheit hatte sie in die Zuckerdose Salz getan. Da hatten sie ihren tschaj .
WIR
KAMEN
WIEDER einmal aus der Bar, aus derselben Bar, in deren Nähe wir uns am Taxistand zum ersten Mal begegnet waren. Ich kicherte, Hukka lachte, und nach wenigen Schritten blieben wir stehen, um uns zu küssen. Es war halb fünf Uhr morgens, hinter uns lagen ein heiterer Abend und ein Rausch voller Weißrussen. Ich kaufte am Kiosk Zigaretten, und Hukka ging zum Imbiss, um etwas zu essen zu besorgen, Hukka war zuerst zu Hause, saß schon auf dem Sofa und aß, am Kiosk war eine lange Schlange und irgendein Zwischenfall gewesen, ich kam erst jetzt, Hukka öffnete mir die Tür, war aber schon zurück auf dem Sofa, noch ehe ich den Mantel ausgezogen hatte, so als hätte Hukka sich gar nicht vom Fleck gerührt, und sah nicht zu mir herüber, sondern aß. Ich blieb in der Tür stehen, aber Hukka drehte sich nicht um. Mir schnürte es die Kehle zu, ich schluckte, ich ließ den Hals knacken, so als würde das irgendetwas nützen, ging schließlich ins Zimmer, Richtung Sofa, zum Tisch und blieb stehen. Hukka hatte zwei Hamburger, von denen er den einen aß, der andere war noch in seiner Verpackung auf dem Tisch.
Was jetzt? Hukka warf mir einen Blick zu. Ich sagte nichts. Ich schluckte das Weinen und das Wasser hinunter, das von einer solchen Sesamsemmel erzeugt wird.
Möchtest du, dass ich nach Hause gehe?
Hukka wunderte sich über meine Frage, darüber, dass ich mich nicht sonderlich willkommen fühlte.
Wieso?
Vor Zeiten hatte Hukka mich immerhin umarmt und geküsst, wenn ich die Wohnung betrat und Hukka mich erwartet hatte. Während ich das sagte, schob ich die Unterlippe ein wenig vor, so als schmollte ich.
Aber der Hamburger wird doch kalt!
Und das ist wichtiger als ich?
Wenn du nur auch etwas essen wolltest, würdest du dich besser fühlen. Und nicht so schlechte Laune haben.
Ich will mich nicht besser fühlen.
Du musst essen.
Ich esse nicht. Ich wage es nicht.
Wenigstens Brot.
Brot schon gar nicht.
Na, dann etwas Süßes. Damit du dich besser fühlst, dann bekommst du keine Kopfschmerzen.
Aber
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