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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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vielAufmerksamkeit für den anderen und somit Interesse am anderen. Besonders dann, wenn wir uns gestritten hatten. Egal, worum.
    Hukka hatte schon seinen Eltern und Geschwistern von mir erzählt, die ich niemals kennenlernen wollte, mit denen ich niemals sprechen wollte, deren Münder voll waren von den Möglichkeiten unangenehmer Fragen. Obwohl es ja keineswegs sicher war, dass irgendjemand überhaupt etwas gefragt hätte. Von Hukkas Freunden hatte keiner etwas gefragt. Solche Menschen gab es also auch. Leute, die sich für nichts anderes interessierten, als welche Musik als Nächstes gespielt wurde oder was ich studierte. Leider sind Verwandte nicht solche Menschen.
    Hukka hatte immer noch zu viel Nähe an sich.
    Zu viel Nähe, als dass ich mit Hukka nach Tallinn hätte fahren können.

NACHDEM
DIE
SERONIL und die Seromex meine Lebensmittellibido verändert hatten, wurde aus der estnischen sauren Sahne, die lange zu den verbotenen Nahrungsmitteln gehört hatte, zuerst ein sporadischer Gedanke, der meine Neugier kitzelte, ob ich mich wohl noch daran erinnerte, wie sie schmeckte, und ob ich sie nicht irgendwann ziemlich gern gemocht hatte, und dann ganz aus Versehen … Mutter hatte zufällig eine Tüte saure Sahne zu Hause. Und kein anderes Produkt, das ich für meinen Birnenkuchen brauchte. Ich musste sie nehmen. Es gab keine andere Alternative. Ich öffnete die Tüte – hapukoor , die saure Sahne, war in eine Plastiktüte abgefüllt –, schüttete sie in die Schüssel, fügte Zucker hinzu … dieser Geschmack! Großvater hatte in seinen letzten Jahren nur saure Sahne mit Zucker gegessen. Ich hatte sie manchmal gekostet … derselbe Geschmack. Wie etwas, das ich schon immer gesucht hatte.
    Begeistert registrierte ich auch die Tatsache, dass das Chalwa und die kohukkeet nach langer Pause in die Geschäfte von Tallinn zurückgekehrt waren. Ganz frisches Marzipan und Chalwa hatte es reichlich gegeben, als ich etwa fünf war, ebenso kohukkeet , kleine süße Quarkriegel. Irgendwann verschwanden sie aus den Geschäften. Mindestens fünfzehn Jahre lang sah ich sie nicht. Ebenso kehrten viele Konfektsorten, die ich damals gegessen hatte und die danach gänzlich verschwunden waren, allmählich auf die Ladentische zurück. Bei jeder Reise war etwas Altes, mir Liebes, in die Geschäfte zurückgekehrt. Enthusiastisch trug ich es nachHause, verwahrte es in den Koffern unter dem Bett und war zufrieden, dass ich diese himmlischen Geschmäcker zurückbekommen hatte. Da ich mich nicht genau an alle Namen erinnerte, kostete ich jeden möglichen alten Bekannten. Wenn ich den Geschmack erkannte, kaufte ich von dem fraglichen Konfekt ein, zwei Kilo. Es fühlte sich im Mund genau richtig an, so, wie es sich anfühlen sollte, es schmeckte richtig, es enthielt meine untergehende Welt, obwohl die Einwickelpapiere jetzt nach westlicher Art silbern glänzten, und dieses Silber konnte man nicht vom Unterpapier lösen wie das der Teekond- Pralinen, die ich als sehr kleines Kind gegessen hatte. Deren Papier war weiß gewesen, nur an den Enden grün, und in der Mitte von einem Metallpapierstreifen in Goldschattierung umgeben, der mit präziser Fingerarbeit vom Unterpapier gelöst werden konnte. Die meisten Schokoladenpralinen waren nach demselben Prinzip eingewickelt gewesen, sie waren alle gleich groß gewesen, etwa 2,5 × 4   cm, abgesehen von dem in Schachteln verpackten Konfekt, dem kompvek .
    Jetzt hatten die Konfektstücke westliche Maße angenommen, waren also etwas kleiner geworden, aber zum Glück nicht zu sehr. Auch die Form der Sahnetoffees hatte sich vom Quadrat zum Rechteck gewandelt. Früher war ihr Schutzpapier ebenso gefaltet gewesen, wie man ein Geschenk einpackt, jetzt entfernte man das glänzende Silberpapier, indem man ihre gezwirbelten Enden auseinanderzog, und statt Kiss-Kiss hießen sie jetzt Sonja und Ronja, und man bekam sie auch schon in Finnland, zunächst nur bei Prisma, die Vierhundert-Gramm-Packung für einen oder zwei Zehner. Zur Jahrtausendwende konnte man bei den im Bahnhofstunnel von Helsinki gekauften losen Bonbons nicht mehr erkennen, welche aus Finnland und welche aus Estland kamen, weder am Geschmack noch am Einwickelpapier. Bonbons, die an die Aromen meiner Welt erinnerten, bekam man nur jenseits der Grenze, obwohl auch die jetzt schonin Zweihundert-Gramm-Packungen aus Zellophan in den Lebensmittelgeschäften verkauft wurden, und wahrscheinlich würden auch sie bald nur noch hundertsiebzig Gramm

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