Stalins Kühe
wiegen wie in Finnland, und sie würden immer weniger an meine Welt erinnern, selbst wenn der Geschmack dem früheren noch ein wenig ähnelte.
Ich war besorgt. Würden alle baltischen Geschmacksvarianten nach demselben System verschwinden? Jede Tasche voller Gläser mit Mayonnaise konnte die letzte sein. Das konnte man nie wissen. Hukka begriff nicht im Entferntesten, warum ich saure Sahne, Mayonnaise, Schokolade, Sprotten, Sauerkraut und so etwas in solchen Mengen herbeischleppen musste, dass ich am nächsten Tag vor Rückenschmerzen nicht ohne Burana aufstehen konnte. Der niedrigere Preis allein genügte nicht als Erklärung. Hukka hätte nicht verstanden, warum ich mir diese Mühe machte. Und ich verriet Hukka auch nicht, wie viele Gläser mit Sauerkraut ich tatsächlich schleppte.
Ich musste versuchen, diese Lebensmittel für Jahre im Voraus zu bunkern, damit ich den lieblichen Duft des Zuhauses noch möglichst lange bei mir haben konnte. Unter den heimatlichen Speisen gab es welche sowohl aus der Abteilung für sichere als auch aus der für gefährliche Lebensmittel, sowohl Sauerkrautsuppe als auch saure Sahne. Die Sauerkrautsuppe hatte ich als kleines Mädchen freilich mit viel saurer Sahne gegessen. Die Suppe wurde in Gläsern verkauft, die in Regalen aus klammem Metallgeflecht standen, und für die Zubereitung fügte man so viel Wasser hinzu, wie das leere Suppenglas fasste. In Finnland war das Sauerkraut damals teuer, es wurde in kleinen Plastikbehältern zu etwa zweihundert Gramm verkauft und war zu frisch, um gut zu sein, aber Mutter kaufte es, wenn ich es wollte, für die dunklen Abende, wenn Vati wieder einmal irgendwo in Russland war und Mutter und ich allein vor Knight Rider saßen. Sauerkrautsuppe könnte ich in rauen Mengen vertilgen. Später lernte ich, die allerbeste Sauerkrautsuppe zu kochen, eine, die nicht nur gut, sondern auch sicher war, wenn ich das Fleisch und die saure Sahne wegließ. Aber wenn ich auch die Sauerkrautsuppe selbst kochen konnte, würde mir doch die Herstellung von saurer Sahne nicht gelingen, und das war entnervend.
Zum ersten Mal seit Jahren kaufte ich am 6. 3. 2001 in Tallinn eine Schachtel Konfekt, die ich unter dem Namen Linnupiim , Vogelmilch, kannte, die jetzt aber Reverance hieß und in drei Geschmacksrichtungen zu haben war. Ich öffnete die Schachtel: Sie enthielt elf Stücke Konfekt. Elf! Sie befanden sich im gleichen gestanzten Plastikbett wie in den westlichen Ländern, für jede Praline eine eigene Vertiefung in dem gelblichen Kunststoff. Elf! Die Packung, wie ich sie kannte, war ganz mit Konfektstücken gefüllt gewesen, ohne irgendeinen Eierkarton aus Kunststoff, randvoll, dicht an dicht, die Schachtel musste etwa ein halbes Kilo gewogen haben, jetzt hatte sie den Aufdruck 130 g, obwohl die Schachtelgröße genau dieselbe war. Man hatte mich getäuscht. Betrogen. Wo waren meine vogelmilchigen Schokoladenpralinen geblieben?
Später machte ich eine Fahrt aus der Stadt Tallinn hinaus, und dort fand ich eine kleine Bude, wo es sowohl Linnupiim – als auch Reverance-Konfekt gab. Beide! Nein, das ursprüngliche Konfekt war nicht alt. Es wurde also noch hergestellt, warum gab es das nicht in Tallinn, wie herrlich! Aufgeregt kaufte ich sofort zehn Schachteln Linnupiim .
Die Verwestlichung der Größen behagte mir überhaupt nicht. Oder die abgepackten Waren. In Helsinki war es ein Luxus, dass man an der Käsetheke selbst sagen konnte, dass man hundert Gramm Käse wollte, und dann diese hundert Gramm auch bekam. Außerdem: Warum kosteten die kleinen verpackten Größen oder Mengen im Verhältnis mehr als die großen? Anders war es damals, als es einen Kilopreisgab, egal, ob man an der Theke fünfzig Gramm oder ein Kilo kaufte. In einem solchen System war weniger oder kleiner nicht teurer oder wertvoller. Ich als Bulimikerin hätte mich nicht anzustrengen brauchen, um zu sparen, indem ich Familienpackungen kaufte, und so hätte ich sogar einige Essorgien vermeiden können. Und eine Fünfzig-Kilo-Frau wäre nicht wertvoller gewesen als eine, die achtzig Kilo wog.
Zwar gab es in der Sowjetunion nicht für jede Frau eine Kleidergröße, aber die geringe Anzahl von Größen hatte zur Folge, dass niemand sich vorstellen konnte, dass die Größen in den Geschäften oder die Kleider überhaupt irgendjemandes Figur entsprachen. Und schon gar nicht hätte man aus ihnen schließen können, wie die Durchschnittsfigur einer Frau aussah oder aussehen sollte. Mit der
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