Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
Vom Netzwerk:
überhaupt nicht wahrnahm, ich hätte mir an jeder Blumenampel, die vor den Haustüren erschienen waren, fast den Kopf gestoßen. Die Straßenpflasterung war ausgebessert, die Wege geglättet. Auf den Straßen bewegten sich weniger Menschen, dafür mehr Autos, vom Toompea waren innerhalb einer Woche alle Menschen verschwunden, nachdem aus den Häusern dort Behörden und Botschaften geworden waren. Aus den Häusern des Toompea, aus denen bei Ankunft der Sowjetmacht die Bewohner nach Sibirien verschleppt worden und in die stattdessen Leute aus Russland eingezogen waren und wo die Radios dröhnten …
    … die Babuschkas sitzen vor den Häusern auf Bänken wie alle anderen russischen Babuschkas in allen Winkeln Russlands, die Esten würden das nicht tun, die Esten arbeiten immer, diese Russen, die sind faul, ist es denn ein Wunder, dass »kui venelane«, wie ein Russe, eine beliebte Schmähung ist, die allem Geschmacklosen, der Kleidung oder den Trinksitten oder einfach nur dem Krakeelen gilt … Die Kinder laufen in kurzen, dunkelbraunen Shorts oder Kleidern herum, deren Kürze der Kategorie Hemd entspricht, Katzen kommen und gehen, Brautpaare stehen und betrachten vom Aussichtspunkt neben der Domkirche aus die Dächer der Altstadt, auch die orthodoxe Kirche ist gleich um die Ecke, aber sie wird Russenkirche genannt, und sie gefällt den Menschen überhaupt nicht. Diejenigen, die zum Aussichtspunkt gekommen sind, essen Eis, das in einer pappig schmeckenden Waffel und in einer einzigen Geschmacksrichtung verkauft wird, die nicht Vanille ist, obwohl man das aufgrund der Farbe annehmen könnte, oder als unglasiertes Eis am Stiel, das in eine Hülle verpackt ist, die an weich gewordenes Zeichenpapier erinnert, und diese Einwickelpapiere liegen dann überall herum, und niemand sammelt sie ein, obwohl es Reinigungspersonal gibt – Frauen, die das Rentenalter weit überschritten haben, die mit Eimer und Besen träge von einer Stelle zur anderen schlurfen, ohne sie jemals einzusetzen.
    Die Dachziegel zerfallen, niemand repariert sie, in den Treppenhäusern stinkt es nach Pisse, niemand putzt sie, die Haustüren stehen haltlos offen, und niemand bringt sie in Ordnung, die hölzernen Verzierungen, die Farbe, die Reliefs, der Mörtel – alles löst sich ab, die jahrhundertealten, ursprünglichen Steinfußböden verschlacken bis zur Unkenntlichkeit, Schadinsekten durchlöchern die Holzgeländer, im Schutz eines jeden Winkels Menschenkacke, allerdings würde auch ich die öffentlichen Toiletten nicht benutzen, und Mutter würde mir das auch gar nicht erlauben, Mutter hört nicht auf, sich darüber zu wundern, wie die Russinnen, die auf diese Toiletten gehen, mit ihren schweren Körpern und ihren streichholzdünnen Stöckelabsätzen auf den Kloschüsseln das Gleichgewicht halten können, denn eine öffentliche Toilette, deren Brille nicht von den Spuren der Hackenschuhe gemustert wäre, kann man unmöglich finden …

1952
    Edgar erschoss sich, als er geschnappt wurde.
    Richard ist nicht gefunden worden.
    August wurde hingerichtet.
    Sofia weint nicht.

JE
HÄUFIGER
ICH Tallinn besuchte, umso mehr wollte ich mit Hukka über meine Welt sprechen. Natürlich hätte ich über Tallinn gewöhnliche Touristengeschichten erzählen können, aber deren Oberflächlichkeit, Unbeteiligtheit und Klischees hätten die allerwesentlichsten Dinge außer Acht gelassen, nämlich die, aus denen Hukka hätte sehen können, wirklich sehen können, wie das Meer im Hafen von Tallinn schwappt und wie herrlich es war, an einem heißen Sommertag im Kuldaseppa Kelder zu speisen, die nackten Füße auf den Steinfußboden zu stellen, die von den Steinwänden des Kellers gekühlte mittelalterliche Luft zu atmen und zwischen den heruntergekommenen Holzhäusern durch den Stadtteil Kopli zu wandern.
    Nein, das würde Hukka nicht sehen, und das machte mich geradezu rasend. Gleichzeitig wirkte es erleichternd auf mich, weil es mir wieder eine Gelegenheit bot, Hukka auf Abstand zu halten, und dafür brauchte ich ständig neue Mittel.
    Trotz unserer Streitereien sandte Hukka mir telefonisch jeden Morgen einen Morgenkuss und jeden Abend einen Gute-Nacht-Wunsch, wenn wir über Nacht nicht beisammen waren. Wenn wir beisammen waren und uns stritten, kamen die Morgen- und die Abendküsse trotzdem. So etwas war bei mir zu Hause niemals üblich gewesen. Deshalb war es irgendwie zu intim. Guten Morgen und Gute Nacht zu sagen und dann auch noch zu küssen. Darin lag allzu

Weitere Kostenlose Bücher