Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
Vom Netzwerk:
Kantine des Kreml bestellen könnte. Das wäre so schön. Und sie kann kaum das nächste Frühjahr erwarten, wenn sie mit der Partei nach Paris fahren und die dortigen Proletarier besuchen soll, Paris ist angeblich im Frühling so wunderschön. Ja, der kommunistische Internationalismus ist wirklich herrlich! Herein mit Frankreich in den himmlischen Bund der sozialistischen Länder! Die Partei duftet nach Champagner und Kognak und französischen Parfums. Nach Villen am Meer und nach rotem Samt. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
    »Die Sowjetmacht ist der Weg zum Sozialismus, den die arbeitenden Massen beschreiten, und deshalb ist er richtig, und deshalb ist er unbesiegbar.« Mit diesen Worten Lenins würde sie ihre Rede in Paris beginnen. Dann würde sie fortfahren, indem sie erzählt, was Sowjet-Estland für eine Erfolgsgeschichte ist: »Pro 1000 Einwohner gibt es in Sowjet-Estland mehr Ärzte als zum Beispiel in England, Frankreich oder Finnland, ganz zu schweigen von einigen weniger entwickelten Ländern! Unser Volk isst auch besser als die Menschen in vielen kapitalistischen Ländern! Nach statistischen Angaben aus dem Jahr 1968 wurden in Estland 121 Kilo Getreideprodukte pro Einwohner verbraucht, was denoptimalen Normen für die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse entspricht, die vom Ministerium für Gesundheitsfürsorge der Sowjetunion erstellt wurden, während in den Vereinigten Staaten von Amerika in demselben Jahr pro Einwohner nur 101 Kilo Getreideprodukte konsumiert wurden! Der Verbrauch an Fisch pro Einwohner beläuft sich in Sowjet-Estland auf 23,8 Kilo im Jahr, in Schweden auf 20 und in Finnland auf elf Kilo, in den Vereinigten Staaten nur auf 6,2 Kilo! Im Verlauf des gegenwärtigen Fünfjahresplans werden unseren Ackerbauern unter anderem 13   500 neue Traktoren, 2600 Mähdrescher, 1200 Planierraupen und viele andere landwirtschaftliche Maschinen zur Verfügung gestellt. Auf die Felder werden 865   000 Tonnen Mineraldünger ausgebracht, was einer Steigerung von 35   % entspricht! Was Sowjet-Estland doch für ein Erfolg ist! Jetzt können wir gemeinsam den 35.   Jahrestag begehen und feststellen, dass es kein Wunder ist, dass Estland nicht aus der Sowjetunion austreten will, was natürlich absolut möglich wäre, falls Estland es nur wollte, anders als die antikommunistische Propaganda es ständig zu behaupten versucht. Die Sowjetunion hat das estnische Volk vor der sicheren Vernichtung bewahrt, in die die bürgerliche Regierung es führen wollte. Dies ist die Wahrheit und der Weg.«

ICH
FANGE
AN , in den alten Zeitungen zu blättern, die ich um mich herum verteilt habe.
    Die Tante hebt alles Mögliche auf, unter den Zeitungen finden sich auch viele finnische Frauenzeitschriften, die Mutter seinerzeit mitgebracht hat. Besonders die von Burda waren begehrt. Und sie waren ja auch anders, glänzend und bunt. Dunkel erinnere ich mich, dass auch ich sie hier durchgeblättert habe, denn die einzige estnische Frauenzeitschrift war damals Nõukogude naine , die Sowjetfrau, mit ihren wenigen Bildern völlig uninteressant. Die hiesigen Zeitungen umfassten nur wenige Seiten, und in den Briefkasten kamen sie zur Größe eines Schulhefts zusammengefaltet. Die Nõukogude naine hatte ein braunes Deckblatt, auf der Rückseite waren meistens Blumen abgebildet, auf der Vorderseite oft Kinder oder manchmal eine Melkerin ohne Lächeln, die Innenseiten zeigten Fotos von Pilzen oder Beeren oder Blumen, je nach Jahreszeit. Proletarier aller Länder, vereinigt euch  – das stand auf der Vorderseite jeder einzelnen Ausgabe, aber das bemerke ich erst jetzt. Die finnischen Frauenzeitschriften interessieren mich nicht mehr, und schon gar nicht dieselben noch einmal, darin wird Virpi Nieminen immer noch beim Stehlen von Hackfleisch erwischt, und Eva-Riitta Siitonen erzählt in einer herausnehmbaren Beilage zum Thema Abnehmen, wie man schlank bleibt.
    In der Nõukogude naine gibt es offenbar in regelmäßigen Abständen Interviews mit Melkerinnen, Agronominnen und Fischzüchterinnen, aber kaum ein einziges Ganzkörperfoto von einer Frau, oder zumindest keines, bei dem die Figur sichtbar wäre. Stattdessen gibt es Frauen mit Harke und Sense in der Hand, Frauen an Nähmaschinen, Gruppenbilder von Fabrikarbeiterinnen, auf denen niemand richtig zu erkennen ist, schwarz-weiße Passbilder und endlich, im Jahr 1986, auf dem Titel das Farbfoto einer Frau, die etwas im Gesicht hat, was man als Make-up deuten könnte.

Weitere Kostenlose Bücher