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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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Gesellschaft. Jeder versucht, mich sexuell oder wirtschaftlich oder auf beide Arten und bestimmt noch eine weitere auszunutzen, die Mutter nur noch nicht herausgefunden hat. Deshalb knallte sie früher immer den Hörer auf, wenn Jungs anriefen und nach mir fragten, und sie hätte dasselbe wohl gerne auch bei den Mädchen getan, aber das konnte sie nicht, denn die Anruferin konnte aus derselben Klasse sein und der Anruf schulische Dinge betreffen und nicht irgendwelche leichtsinnigen Menkenken.
    Zunächst kam ich allein nach Tallinn. Genau. Nach dem letzten Streit zwischen Hukka und mir, dem letzten. Ich ging einfach fort und sagte nicht, wohin. Ich fuhr mit dem Katamaran nach Tallinn, war in Sicherheit, und vom Hafen aus rief ich Mutter an und sagte ihr, wo ich war. Mutter kam nach und brachte mich hierher, zur Tante in das Haus aus bröckelnden Ziegelsteinen, dessen graue Wände vertraut duften und wo irgendwo in der Nähe Kastanien zu Boden fallen. Dass ich von allen Menschen gerade Mutter anrief, ist das nicht komisch, ich hätte mich wohl an keine andere Telefonnummer erinnert. Ich rief Mutter an und sagte, Mutter, ich hab Hunger. Anna ist hier, und Anna hat Hunger.
    Ich verteile auf dem Sofa, auf dem ich liege, und auf dem Fußboden weitere Zeitungsjahrgänge aus den Siebziger- und Achtzigerjahren aus dem Schrank der Tante, der sich inReichweite befindet. In einer ganz frischen Zeitung, die ich auf dem Sofatisch gefunden habe, wird von einer Frau aus Pärnu berichtet, die im Jahr 1972 mit Elektro- und Insulinschocks wegen ihrer Krankheit behandelt wurde, die erst jetzt als Bulimie erkannt wurde. Jetzt hat diese Maie, deren Gesundheit durch die Behandlungen vollkommen ruiniert ist, die auf das Dreifache aufgequollen ist, einen Bart bekommen und den Tastsinn ihrer Hände verloren hat, den Rechtsweg beschritten, um vielleicht im Ausland irgendeine Behandlung zu bekommen, die ihren Zustand verbessern könnte. Nach Ansicht von Fachleuten ist es durchaus verständlich, dass die Frau den Glauben an das Gesundheitswesen ihres Landes verloren hat.
    Ich bin sehr froh, dass ich nicht zehn Jahre früher geboren wurde. Ich reiße den Artikel aus der Zeitung heraus und verstecke ihn in meinem Taschenkalender. Die Zeitung stecke ich in den Herd, damit niemandem auffällt, was ich herausgerissen habe. Andererseits hätte ich bei meinen Brechkünsten und beim Abnehmen vielleicht kein solches Geschick entwickelt, wenn ich nicht den Zugang zu all den Tipps gehabt hätte, die die Literatur und die Zeitungen über Essstörungen bieten. Vielleicht wäre ich gar nicht auf das Erbrechen gekommen. Vielleicht wäre ich darauf gekommen, aber später. Oder vielleicht hätte ich einfach gedacht, das machen doch alle so, aber nicht öffentlich.
    Mutter bringt mir auf einem Tablett Erbsen aus der Dose, die ich immer gegessen habe, seitdem sie bei der Beerdigung meines Großvaters serviert worden waren. Von da an musste ich jedes Mal, wenn ich mit der Georg Ots fuhr, ans Büfett, um nur Dosenerbsen zu essen, obwohl meine Mutter fand, das habe überhaupt keinen Sinn. Aber ich musste ja außer Fruchtdrops oder Salmiakpastillen etwas in den Bauch bekommen, da unser Proviant nichts für mich war. So wie immer, wenn ich nicht bereit war, das zu essen, was auf den Tisch kam. So wie immer, wenn meine zahllosen schwierigen Essgewohnheiten und – regeln die Menschen veranlassten, die ganze Stadt abzuklappern, um bestimmte Salmiakpastillen, Ballerina-Erbsen in der Dose und alle möglichen anderen, mal diese, mal jene ganz bestimmten Dinge aufzutreiben, denn etwas anderes kam für mich nicht infrage.
    Ich esse die Erbsen eine nach der anderen, nehme jede zwischen Daumen und Zeigefinger aus der Schüssel, betrachte sie prüfend und stecke sie mir in den Mund. Mutter kann nicht mit ansehen, wie schwer mir das Essen fällt, und geht fort. Ich könnte den ganzen Inhalt der Schüssel aus dem Fenster werfen, eigentlich enthalten sie zu viel Stärke, eigentlich sind sie mittlerweile ein etwas zu gefährliches Lebensmittel, aber Dosenerbsen sind ein Sonderfall – ich darf sie nicht so behandeln. Ich esse sie alle auf.
    Früher aß ich vom Büfett natürlich auch vieles andere. Wenn Irene und ich zu zweit mit dem Schiff nach Tallinn fahren wollten, fasteten wir schon Wochen vor der Reise und malten uns aus, was wir dann alles essen würden. Nachts konnten wir kaum schlafen. Und dann fuhren wir und plünderten die Tische.
    Das Toilettenpapier bei der Tante ist

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