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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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wohl nicht immer die Prawda gewesen, sie hätte es gar nicht sein können. Warum hätte die Tante eine russischsprachige Zeitung kaufen sollen? Obwohl die Russifizierung dazu führte, dass wegen der angeblichen Papierknappheit möglichst wenig estnischsprachige Zeitungen und Bücher gedruckt wurden und man sich, wenn man die Zeitung Edasi , Vorwärts, haben wollte, schon am Abend zuvor vor dem Zeitungskiosk in die Schlange stellen musste, hätten die Tante oder die Großmutter niemals eine russischsprachige Zeitung gekauft, die immer erhältlich war. Es musste die Zeitung Edasi sein. Oder Õhtuleht , die Abendzeitung, oder etwas Entsprechendes. Anderswo mochte das Papier tatsächlich die Prawda sein, aber bei der Tante oder bei der Großmutter wäre eswohl unpassend gewesen zu sagen, dass sie als Toilettenpapier die Zeitung Edasi verwendeten, die doch immerhin die erste estnischsprachige Zeitung und ein wirkliches Radieschen war, außen rot und innen weiß, und die einzige, zu deren Lektüre der Großvater schließlich bereit gewesen war, weil die übrigen Zeitungen nur Mist boten und noch dazu roten Mist. Aus der Prawda wurde also ein Synonym für Toilettenpapier. Obwohl ich natürlich nichts dergleichen benutzte, ich, Soome preili , das feine kleine Fräulein aus Finnland, natürlich nicht … Vielmehr kaufte Mutter tütenweise Papierservietten, denn auch das eigentliche Toilettenpapier, das es manchmal zu kaufen gab, war härter als die Servietten. Soome preili war eine so feine Dame, dass sie sich den Hintern mit der feinsten, weißesten Serviette abwischte. So sensibel war der Hintern des Fräuleins.
    So fein war das Fräulein aus Finnland, dass die Mutter es nicht einmal die Brotrinde essen ließ, sondern sie abschnitt, so viele Leute hatten im Geschäft – pfui Deibel! – das Brot angefasst, das nicht eingepackt war, so viele Viehpflegerinnen hatten mit ihren rissigen Händen die Weichheit des Brotes prüfen können, und alle Risse der rissigen Hände waren schwarz vor Schmutz, ebenso die Fingernägel. Neben der Kiste hing ein Messer für den Fall, dass man das Brot halbieren wollte. Daneben gab es grüne oder weiße Papierzettel, mit denen man das Brot festhalten konnte, während man es halbierte. Das war lächerlich. Und noch lächerlicher war, dass die Menschen diese Papierstücke tatsächlich benutzten – während sie das Brot unverpackt in den klebrigen Metallkorb legten, der nur einen einzigen Tragbügel hatte und immer im Ungleichgewicht war, denn der Bügel war nur an einem Rand befestigt, und dieser Einkaufskorb wurde auf den noch schmutzigeren Fußboden gestellt und das Brot auf die schmutzige Ladentheke gelegt, und die Kassiererin drehte es mit ihren schmutzigen Fingern hin und her. Aß Mutter das Brot mitsamt der Rinde? Nein, Mutterschnitt sie ab … oder nein, sie schnitt sie nicht ab. Sie schnitt die Rinde nur von meinen Brotscheiben ab.
    In der Küche hat die Tante noch dieselben Tassen und Löffel wie früher. Ein Aluminiumlöffel rührt den Kaffee in einer gepunkteten Tasse um – weiße Kuller auf orangefarbenem Grund. Ich mag kein Orange, und auch nicht das Grün, den Farbton einiger anderer Tassen. Die Tante schneidet auf dem Tisch das Kolchosbrot. Das Messer ist nachgedunkelt, und die Klinge hat sich zu einer schmalen Spitze abgenutzt. Die Tante fordert mich auf, auch Weißbrot, sai , zu essen. Obwohl ich ja nichts esse, wenn nicht sicher ist, dass ich es erbrechen kann. Dieses Kolchosbrot heißt leib . Leib bedeutet generell Kolchosbrot. Und sai immer Weißbrot.
    In den Läden duftete es niemals nach Brot. Nicht bei der Tante und auch sonst nirgends. Ich weiß nicht, wie das Kolchosbrot duftete, wenn es frisch war. In die Läden wurde es in großen hölzernen Schubladen gebracht, die dann in die Rillen des Regals geschoben wurden. Oder eigentlich war das kein Regal, sondern ein Metallgestell auf Rädern. Im Lauf der Jahre änderte sich der Geschmack des Kolchosbrotes. Aber ich mochte es immer. Es hatte eine seifenartige Konsistenz, und es wurde nicht ganz durchgebacken, damit für ein Brot des Standardgewichts weniger Rohstoffe verbraucht wurden. Der Geschmack war säuerlich, und es wurde mit ungesalzener Butter bestrichen, und obwohl ich mir aus ungesalzener Butter später gar nichts machte, so möchte ich doch immer Kolchosbrot. Als Kind nannte ich es manchmal auch Kuhbrot, denn es wurde allgemein auch als Viehfutter verwendet, für die Kühe und die Schweine wurde es sackweise

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