Stalins Kühe
Gefühl einer großen Reise, eines großen Abenteuers, eines wirklichen Abenteuers – ebenso wie sie jenseits der Grenze Einkaufen spielen darf, indem sie richtig einkaufen geht. Schon für die ersten Reisen hatte Mutter eine riesengroße rote Tasche gekauft, die leer sehr leicht und insofern für diese Reisen genau richtig war. Dann war da noch eine unheimlich große schwarze Tasche, die Handtaschen und Annas kleine Sporttasche mit den Fluortabletten und der Blockflöte. Noch in der Nacht um drei Uhr fünfzehn waren Mutter und Anna, so schnell sie konnten, mit ihren Taschen einen dunklen, typisch finnischen Kiesweg entlanggeeilt, der von dem für Anna fremden, kalten und sauberen Haus in die Stadt zum Bahnhof führt. Noch nicht einmal die Zeitung ist gekommen. Mutter hat kein Geld für ein Taxi, denn sie hat immer noch keinen finnischen Pass, der ist ihr aus wer weiß welchen Gründen nicht gewährt worden, Mutter hat nur ein Visum, und das beunruhigt Anna die ganze Zeit. Deshalb bekommt Mutter keine Arbeit und von nirgendwo Geld, nur ein paar Übersetzungsarbeiten über Vatis Arbeitsstelle, obwohl sie gut ist in ihrer Arbeit, aber das hat in diesem Land des fremden und kalten Lichts keine Bedeutung, keinen Wert. Deshalb müssen wir zu Fuß zum Bahnhof gehen. In Helsinki müssen wir dann jedoch ein Taxi nehmen. Zwei Taxifahrten können wir uns in Finnland nicht leisten.
Wir haben es eilig, weil der Zug morgens um vier von dem typisch finnischen Bahnhof abfährt und weil es der einzige Zug ist, mit dem wir fahren können. Damit schaffen wir es gerade eben zur Abfahrt des Schiffes. In einem Hotel übernachten können wir nicht, das können wir uns nicht leisten. Um sechs sind wir in Tampere, und dort müssen wir in irrsinnigem Tempo umsteigen, mit all unseren Taschen durch die Unterführung rennen, um nur ja nicht den Zug nach Helsinki zu verpassen. Für das Umsteigen haben wir nur fünf Minuten Zeit. Alles muss nach Plan gehen, denn den Zug dürfen wir nicht verpassen und auch das Schiff nicht – eine Übernachtung in Helsinki käme zu teuer. Denn das Schiff verkehrt nur einmal täglich. In Helsinki müssen wir ganz schnell ins Taxi springen, zur Tehtaankatu rasen und die Pässe und Visa holen, bevor wir zum Hafen fahren. Anna wartet im Taxi, während Mutter in der sowjetischen Botschaft ist. Man kann nie wissen, wie lange es dort dauert und ob sie das Schiff noch erreichen. Die Unsicherheit bezüglich der Zeit und das Schlangestehen beginnen, sobald es um die Überschreitung der Ostgrenze und um das Vaterland aller Werktätigen geht. Man kann nicht einmal wissen, ob die Visa in der Botschaft bereitliegen. Meistens tun sie das, aber es gibt keinerlei Gewissheit. Anna kann sich auch nicht sicher sein, ob die Mutter überhaupt wieder aus der Botschaft herauskommt. Es ist zwar noch nie passiert, dass die Mutter dort geblieben wäre, aber woher soll man das wissen?
Als der Tourismus auf beiden Seiten des finnischen Meerbusens zunimmt, werden die Schlangen in der Botschaft fürchterlich lang und reichen nicht nur bis zum Eingangstor der Botschaft, sondern winden sich bis weit auf die Tehtaankatu hinaus. Aber auch dann wartet Mutter nicht, sondern huscht an der Schlange vorbei und in die Botschaft hinein, was zwar Groll erregt, aber doch nicht so viel, dass sie es nicht gedeichselt bekäme, die Visa und Pässe zu holen und zu Anna und den Taschen ins Taxi zurückzukehren. Die Botschaftsangestellten interessiert Mutters Vordrängelnnicht. Und niemand in der Schlange wagt es wohl, viel Wind darum zu machen aus Angst, er könnte selbst ohne Papiere bleiben.
Der Taxifahrer hebt nicht einmal die eine der großen Taschen aus dem Gepäckraum, als sie am Hafen sind. Im Terminal gibt es immerhin Gepäckwagen, auf die die Taschen gerade noch draufpassen, und damit kurven sie zur Fahrkartenschlange, die entnervend viel Zeit verschlingt. Der finnische Zoll fragt niemals etwas, schaut nur in die Pässe. Bald sind wir im Schiff. Die Georg Ots ist das einzige Passagierschiff, das zwischen Helsinki und Tallinn verkehrt. Während der Fahrt geht Anna zollfrei einkaufen und sieht sich zusammen mit ihrer Mutter die an den Wänden hängenden Bilder von Ots in verschiedenen Rollen an, Tschaikowski und Mozart, und dabei lutscht sie Fruchtdrops, ohne ein einziges Mal darauf zu beißen – das lernt sie erst später.
Als das Schiff sich dem Hafen von Tallinn nähert, möchte die Mutter einen Abstecher in die Bar machen. Immer wenn die Türme
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