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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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einfach fragen, warum der Finne seine Zigarettenpackung immer in die Tasche steckt, warum kann sie nicht auf dem Tisch liegen, das ist ja schon ganz …
    Der Finne sagt, er könne nicht nach jeder Zigarette eine neue Schachtel kaufen – ausländische Zigaretten verschwinden sofort vom Tisch, wenn man sie dort hinlegt, oder es kommt eine ganze Schlange von Leuten, um eine Zigarette zu schnorren. Ob Katariina das sehen wolle, ob sie das nicht glaube? Nein?
    Der Finne legt die Packung mitten auf den Tisch, damit sie nicht gleich fortläuft, aber tatsächlich bildet sich eine Schlange. Katariina starrt sie an.

DAS
ALLES
WAR peinlich. Nämlich, wie das alles im Hafen von Tallinn auf die Finnen wirkte. Ebenso, wie es Jahre später umgekehrt peinlich war, an derselben Stelle finnisch zu sprechen. Alle Finnen waren Wodka- und Sextouristen. Andere waren jedenfalls nicht zu sehen. Gab es sie überhaupt? Eine finnische Schulklasse erbrach sich reihenweise beim Begrüßungsfest ihrer Partnerschule und hielt mehrere Nächte die ganze Stadt Pärnu wach, weil die Gasteltern die besoffenen, auf Finnisch herumkrakeelenden Schüler suchten. Allein schon die estnische Alkoholpolitik, die nicht nach Papieren fragte und den Kauf von Alkohol rund um die Uhr erlaubte, war sicherlich berauschend. Sie musste ermutigend sein. Verleiten. Branntwein dürfte doch nicht in jeder Milchbude und in jedem Kiosk, an jeder Tankstelle und im Blumenladen verkauft werden. Eine Verantwortungslosigkeit, die niemand, der in Finnland von den Vorkommnissen las, verstehen konnte. In Finnland konnte man zumindest sicher sein, dass Minderjährigen so etwas nicht passierte. In Finnland geboren zu werden ist wie ein Lottogewinn!
    Allerdings blieb diese Peinlichkeit ebenso verborgen wie meine estnische Herkunft. Die hatte schon im Mutterleib in mir so tiefe Wurzeln geschlagen, dass ich mich selbst ohne sie nicht verstand, obwohl ich sie lange Zeit nicht beim Namen nennen konnte. Sie war so vollkommen ein Teil von mir, dass ich überall verkündete, ich verstünde nicht, was Schande bedeutet, wie es sich anfühlt, dass ich! Ich habe mich absolut niemals wegen irgendetwas geschämt.

    Anna wurde ein Mädchen, das sich wegen nichts schämte, obwohl sie nichts anderes war als Schande und Schweigen, das Schweigen der Schande und die Schande des Schweigens.
    Ich bemühte mich, die Schande zu zermürben, sie zu prügeln, bis sie herauskam als blutiges Erbrochenes, in dem in Butter gebratenes Weißbrot und die zerrissenen Stücke meiner Schande schwammen, abgegangene Föten, die ich ins Klosettbecken zwang, in die Magensäure hinein, die die Mettwurst und alles andere verdaute. Meine Schande war nicht einmal von der Art, die schmerzhaften Genuss erzeugt, in dem ich hätte schwelgen und mich selbst geißeln können. Dass meine Schande uneingestanden war, machte sie unvollkommen, unförmig, zu einer Missgeburt, zu etwas, das unfassbar blieb, und wenn ich noch so sehr versuchte, ihr Essen und Trinken zu kontrollieren. Sie entglitt den Händen, weil es sie nicht gab. Sie hatte keinen Namen. Ich musste sie herausbekommen, egal, ob ich mir nun ein Holzscheit oder den Haken eines Kleiderbügels, den Häkelhaken oder die Zahnbürste in den Hals stecken musste, ganz egal. Die Kraft, mit der der Fötus wuchs, war unbegreiflich. Sobald ich den vorigen herausgeschabt hatte, kehrte er in meinen Leib als neuer und dennoch der alte zurück. Und ich kämpfte wieder mit Gewalt gegen ihn, prallte gegen Bäume – man hätte glauben können, ich wäre verliebt! –, damit das Wurm abging, stolperte auf der Treppe, fügte mir mit der Anorexie blaue Flecke zu, riss mir mit der Bulimie innere Organe heraus, um ein Weilchen Ruhe zu haben. Damit ich in der kurzen Zeit, in der ich davon entleert war, nachsehen konnte, was sich ohne sie in mir befindet, ob da irgendetwas ist, ob es möglich ist, dass da etwas ist.
    Oder sollte es doch Angst gewesen sein? Angst, aus der die Schande kam, wenn ich alles, was für mich klar und natürlich war, verheimlichen musste, ohne dass ich richtig verstand, warum?

    Jenseits der Grenze war das Verheimlichen aufregend, in Finnland war es eine Schande. Und als später die Gemischtblütigkeit in Finnland sogar exotisch wurde, war sie jenseits der Grenze zu einer Schande geworden.
    Ich schämte mich dafür, dass meine Mutter niemals die Scheidung einreichte.
    Ich schämte mich, weil Vati die finnischen Nachrichten so laut stellte, dass sie im ganzen Haus zu hören

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