Stalins Kühe
von Tallinn in Sicht kommen, nimmt Mutter vier Zentiliter Kirsberry, und Anna darf das kosten. Mutter ist nervös, trinkt in kleinen Schlucken, schwenkt das Getränk, beobachtet die Bewegung der Eisstücke, immer zur selben Zeit, eine Stunde vor Ankunft im Hafen; eine Stunde vor Ankunft im Hafen ist es Zeit, in die Bar zu gehen, immer wieder die Hände zu falten und die Eisstücke kreisen zu lassen. Anna und Mutter sitzen Jahr für Jahr vor demselben Fenster, wenn sie die Kirchtürme der Altstadt, die Hafenkräne und Kohlenhaufen sehen. Bald würden sie an Land sein. Bald würden sie beim Zoll vor der Passkontrolle und dann vor der Zollkontrolle Schlange stehen. Die Betrunkenen würden lallen und versuchen, sich zusammenzureißen. Die Hemden der Männer würden aus den Hosen heraushängen und die Turnschuhe weiß leuchten. Alle würden über das Schlangestehen, die Langsamkeit und die schlechte Luft lamentieren. Bald würde ihnen in dem heißen Terminal der Schweiß den Rücken herabrinnen, und Anna würde hoffen, dass die Zöllner nichts anderes tun, als die Taschen zu durchleuchten, sonst würden sie in der Tasche das für Großmutter bestimmte Radio finden, und Mutter müsste es wieder mit zurück nach Finnland nehmen, denn wenn die Zöllner es fänden, würden sie es in die Zollerklärung eintragen, obwohl Mutter es darin nicht erwähnt hatte. Nur durchleuchten, seien Sie so nett, öffnen Sie nicht die Taschen. Großmutter liegt im Bett und kann nicht lesen, Mutter braucht ein Radio, wirklich, öffnen Sie nicht die Taschen. Und die Kaffeemaschine müssen wir Juuli bringen, damit sie sich um die Briefe der Großmutter an die Mutter kümmert.
Mutter hält Ausschau, ob einer der älteren Männer zu sehen ist, die vor der Passkontrolle mit Gepäckkarren herumstehen. Die Finnen sind nicht daran gewöhnt, dass jemand ihr Gepäck trägt, und wissen nicht, wozu das eigentlich gut ist. Aber Mutter ist gewieft. Im besten Fall geht es so wie jetzt. Ein alter Mann schiebt ihr Gepäck, das er auf dem Karren gestapelt hat, an der Passkontrolle vorbei, ohne Schlange zu stehen. Dadurch kommen Anna und Mutter direkt zur Zollkontrolle. Nach der Durchleuchtung wuchtet der alte Mann die Taschen wieder auf den Karren, bugsiert sie durch die Schiebetür in die verschwitzte Menschenmasse hinein und lässt Anna und Mutter dort stehen.
Die Zöllner öffnen keine einzige Tasche. Was für ein Glück. Nur eine Durchleuchtung und die Überprüfung von Schmuck, Geld und Pässen. Aber nichts weiter.
Dem alten Mann gibt Mutter zehn Finnmark Trinkgeld, aber dann müssen wir allein mit den Taschen zurechtkommen. Die Gepäckkarren dürfen nicht aus dem Terminal entfernt werden. Und die Taxis dürfen nicht bis zum Hafenterminal heranfahren, sondern müssen in der ziemlich weit entfernten, für Taxis zugelassenen Zone bleiben.
Mutter lässt Anna auf die Taschen aufpassen und geht,um einen Taxifahrer zu überreden, dass er bis zum Terminal fährt, aber das gelingt natürlich nicht, obwohl Mutter zu sehr unkameradschaftlichen Verwünschungen übergeht. Und dem Taxifahrer kommt es natürlich nicht in den Sinn, sich auch nur einen Deut aus dem Auto zu bewegen, um bei den Taschen zu helfen, auch dann nicht, als wir die Taschen zum Taxi geschleppt haben.
Der Taxifahrer ändert sein Verhalten erst während der Fahrt, als wir uns von den Grenzschützern und ihren grünen Uniformmützen gehörig entfernt haben.
IN
ANNAS
WELT kann man nirgendwo vorwärtsgehen. Um vorwärtszukommen, muss man Schlange stehen, überall warten und Schlange stehen, in Taxischlangen in Behörden im Café im Stoffladen beim Zoll; um irgendwohin zu kommen, muss man erst Schlange stehen, wenn man etwas haben möchte, muss man Schlange stehen, und sei es vor der leeren Ladentheke des Fleischgeschäfts, neben der die leeren Kühltruhen surren, vielleicht liegen am Grunde Pelmeni, Kinderwurst und Schweineklauen, eines Tages vielleicht auch andere Teile, dann, wenn die estnische Schweinerasse zu einem Schwein veredelt worden ist, von dem man auch anderes abbekommt als nur Schwanz, Klauen und Ohren, die auf dem Boden der großen Kühltruhe in einer weißen Emailleschüssel liegen, während die Verkäuferin in ihrem schmuddeligen Arbeitskittel mit saurer Miene dahinter steht und glotzt, unbeweglich neben ihrem Rechenbrett. Die übrigen Teile des in Estland gezüchteten Schweins werden nämlich nach Moskau gebracht … immer wird alles nach Moskau gebracht, das wie ein Fass ohne Boden
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