Stalins Kühe
Mutter Sofia werde nicht mehr mit ihrem Mann zusammen verbannt wie während der Verschleppungen vor zwanzig Jahren, und auch nicht die schon erwachsenen Kinder. Falls sie nicht an der Vernichtung von Beweismitteln und am Schützen eines Kriminellen beteiligt waren. Das wisse man freilich nicht, kleine Kinder können richtige Intriganten sein. Sie würden allerdings glimpflicher davonkommen.
Kommt kein Geständnis? Was?
Die Untersuchung des Verbrechens werde fortgesetzt. Arnold wisse doch, dass es Dinge gibt, die nicht verjähren, und dass der Mord an einem Sowjetsoldaten dazugehört?
Zu Hause erzählt Arnold nichts Genaueres über das Verhör.
Ist die Sache immer noch anhängig?, möchte Sofia wissen.
Ja.
Am Küchentisch fordert Sofia Katariina auf, das Land zu verlassen, egal was passiert. Geh. Geh fort. Wir sind alt, du kannst noch gehen. Geh fort! Vater hat nichts getan –
Als ob das irgendeine Bedeutung hätte. Das weiß Katariina sehr wohl.
Aus der Kammer ruft Arnold Katariina zu, geh fort aus dieser roten Hölle.
Sofia erschrickt so, dass ihr die übrigen Worte im Halse stecken bleiben. Es fehlte noch, dass vor dem Fenster ein nuhk , ein Schnüffler, gerade auf solche Worte lauert.
Als Katariina ihren Finnen in Moskau besucht, ist im Flugzeug neben ihr ein Platz frei. Im letzten Moment kommt ein Mann angestürmt, setzt sich darauf und knüpft ein zwangloses Gespräch mit Katariina an. Katarina sagt kein einziges Wort zu ihm, nickt nur manchmal, aber der Mann erwartet gar nicht, dass Katariina sich am Gespräch beteiligt, sondern plaudert den ganzen Flug über. Er erzählt, er sei in Lappland gewesen und habe dort Gold geschürft, davon geht er zwanglos zum Großen Vaterländischen Krieg über und behauptet, daran teilgenommen zu haben und damals in der Gegend von Haapsalu gewesen zu sein.
Katariina sagt nichts.
Der Mann erzählt, ein guter russischer Freund von ihm sei damals getötet worden und auf die Spur des Mörders sei man erst jetzt gekommen. Es handele sich um einen estnischen Banditen, der unverschämtes Glück gehabt habe, denn der Fall sei nach dem Krieg im Archiv in Vergessenheit geraten, weil sich so viele andere Fälle darauf gestapelt hätten, dass man nicht ordentlich habe ermitteln können, und so habe der Mörder jahrelang in Ruhe leben und sich als Kolchosmitarbeiter tarnen können, obwohl er dort in Wirklichkeit wer weiß was angestellt haben mochte. Auch ein Zeuge des Vorfalls sei noch am Leben, der wohl Richard heiße, ein alter Freund aus der Kindheit des Banditen, der zur selben Zeit wie der Bandit im Wald gewesen sei und den Vorfall selbst miterlebt habe. Wie Richard erzählt habe, sei dieser Arnold ein rechter Hitzkopf gewesen.
Katariina erzählt niemandem von dem Mann im Flugzeug, aber allein die Verhöre und die fortgesetzten Ermittlungen genügen Arnold – er geht nicht mehr ins Dorf, spricht nichtmehr mit den Dorfleuten und kaum noch mit Sofia. Am liebsten sitzt er still mit seiner Schnapsflasche in der hinteren Kammer. Er mag nicht einmal zu den nötigsten Hof- und Feldarbeiten hinausgehen. Wenn Gäste kommen und Arnold ist zufällig in der Küche oder im Zimmer, sagt er nichts, sitzt nur und sitzt und raucht seinen Selbstangebauten.
In dem Fotoalbum mit dem schwarzen Deckel, das im Regal in der hinteren Kammer steht, haben Arnold und Richard, die besten Freunde, einander den Arm um die Schultern gelegt und lächeln. Ein anderes Foto ist bei der Hochzeit von Arnolds Schwester Aino entstanden. Sofias Bruder August deutet mit der Schere auf den vorderen Teil der Hose des Bräutigams, daneben lacht Elmer, ihr anderer Bruder. Richards Brille hängt tief auf die Wangen herab, das Gestell sitzt wohl nur auf einem Ohr. Sofias Lächeln unter den blühenden Apfelbäumen gilt Richard, nicht der Kamera, und erweckt den Eindruck, als sei sie errötet. Die Zeit hat Arnolds Blick ausbleichen und so weiß werden lassen wie jetzt.
NAME?
ALTER?
ANSCHRIFT? Beruf?
Kinder?
Und dann der Name und Beruf Ihres Mannes?
Wo haben Sie ihn kennengelernt? Wann?
In welchem Alter sind Sie den jungen Pionieren beigetreten? Und dann natürlich dem Komsomol?
Ach, Sie waren kein Jungpionier? Bestimmt nicht? Und auch keine Komsomolzin?
Sie gehörten also nicht der Partei an?
Aber Sie haben trotzdem die Hochschule besucht?
Wie ist das möglich?
Sind Sie niemals in die Partei eingetreten?
Sie haben also sowohl das Gymnasium besucht als auch die Hochschule, haben Ihr Studium abgeschlossen,
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