Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
Vom Netzwerk:
waren, und mit lauter Stimme die estnischen Wörter wiederholte, die er möglicherweise gehört hatte. Niemals die russischen, obwohl er die Sprache gut konnte. Er fand das sehr witzig. Manchmal rief Vati estnische Wörter, obwohl er den ganzen Tag nichts gesagt hatte, und ich hörte das vom Erdgeschoss bis in die obere Etage. Und manchmal verfiel er darauf, ohne besonderen Grund estnisch zu sprechen. Wenn es im Fernsehen Werbung für Bekleidung gab, wiederholte Vati kaltsuja, kaltsuja , und wenn er es drinnen zu warm fand, öffnete er die Fenster und rief, er müsse etwas ohkua bekommen. Vati kultivierte im Urlaub nichtssagende Phrasen, die ich nicht ausstehen konnte. Was haben wir doch für schönes Wetter. Nun ist es aber schon spät. Sollten wir nicht schon schlafen gehen? Regnet es dort wirklich? Er konnte natürlich nicht laut darüber nachdenken, wie er es deichseln könnte, in die Stadt zu fahren und für seine Tatjana Tampax zu besorgen oder über die üppige Brünette nachzudenken, die an die Tür von Vatis Hotelzimmer geklopft hatte, als Mutter und ich in Moskau zu Besuch waren, und deren Kräusellöckchen sich zwischen den Sofakissen fanden. Vielleicht fand er es sinnlos, über etwas anderes zu sprechen, da ihn nichts anderes beschäftigte.
    Den ganzen Urlaub über waren Vatis Augen auf die Fensterscheibe gerichtet, obwohl sie draußen nichts sahen.
    Was haben wir doch für schönes Wetter.
    Gib dir keine Mühe, ich weiß, was alles in der Tasche ist, die du in der Garage versteckt hast.

    Ich sehe nicht zu ihm hin. Ihm nicht in die Augen.
    Mit etwa zehn Jahren hörte ich auf, am selben Tisch zu essen. Der Sonntagsgeruch von Minutensteaks und gekochten Kartoffeln war widerlich. Nach dem Essen begann Mutter, Vatis Kleider einzupacken, die er mitnehmen wollte, wenn er in den frühen Morgenstunden wieder Richtung Wyborg aufbrach. Oder war es schon Leningrad? Ich hörte, wie Mutter auf den Balkon ging, um Vati nachzuschauen, sobald die Haustür ins Schloss gefallen war. Ich war froh, dass ich nicht aufzuwachen brauchte, um Tschüss, Vati, zu sagen und zu winken.
    Und doch war ich gleichzeitig so stolz auf meine baltischen Wurzeln. In zärtlicher und freundlicher Weise, schmerzhaft und bitter wie auf mein mit einer Behinderung geborenes Kind.

1974
    Da die Sowjetunion ihre Bürger vor dem Grauen bewahren will, dass eine sowjetische Frau sich mit einem dreckigen ausländischen Kriminellen fortpflanzt, muss der Staat sich der Untadeligkeit des Mannes vergewissern, der eine Sowjetbürgerin zur Ehefrau begehrt. Von Katariinas finnischem Bräutigam wird also ein Ehefähigkeitszeugnis verlangt, welches bescheinigt, dass der Bräutigam ledig ist und keine Vorstrafen hat. Dann werden noch die Anträge verlangt, ganz einfach: Name, Alter, Beruf, Nationalität, Staatsangehörigkeit. Und dann noch ein Touristenvisum für Katariinas finnischen Bräutigam für den Tag der Trauung, damit dieser rechtzeitig zu seiner eigenen Hochzeit nach Tallinn kommen kann, denn eine Dienstreise hat ihn nach Moskau geführt, wo er die Botschaft sanieren soll. Es beginnt eine dreimonatige obligatorische Bedenkzeit, das Aufgebot. Das Ehefähigkeitszeugnis ist drei Monate gültig.
    Niemand fragt Katariina irgendetwas, und niemand will sich mit ihr »unterhalten«. Größere Schwierigkeiten sind nicht in Sicht, man muss nur hoffen, dass alle Papiere gleichzeitig gültig sind. Sonst muss die ganze Prozedur von vorne beginnen.
    Nach Ablauf von etwa der Hälfte der Dreimonatsfrist wird Katariinas Vater Arnold zu einem Verhör geholt. In alten Archiven hat sich ein Vermerk gefunden, dem zufolge er im Jahr 1945 einen sowjetischen Soldaten erschossen hat, als der Sicherheitsdienst einen Trupp Waldbrüder belagerte, zu dem auch Katariinas Vater gehörte. Natürlich bestreitet dervierundsiebzigjährige Arnold das, aber es handelt sich um ein schweres Verbrechen, die Beweise sind stark, und es gibt auch einen Zeugen. Wer das denn sei? Arnold werde doch wohl am besten wissen, wer dabei war. Ach nein? Sollte denn Arnold den Zeugen kennen? Na, jedenfalls kenne der Zeuge Arnold. Ob ihm nichts einfalle? Na, das werde sich alles klären. Das Ganze bedeute natürlich Sibirien. Arbeitslager. Ob zehn Jahre genügen würden? Oder fünf? Jedenfalls nicht weniger, nicht wahr, für das Blut eines Sowjetsoldaten komme man nicht ohne angemessene Strafe davon. Eine gehörige Strafe bedeutet 25 + 5. Fünfundzwanzig Jahre Arbeitslager, fünf Jahre Verbannung. Katariinas

Weitere Kostenlose Bücher