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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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in den Schulkorridoren, in den Pausen, am Telefon, überall. Anna freut sich. Irene ist wirklich eine Schwester. Zugleich ist Anna auch erschrocken. Denn was, wenn Irene wieder weniger wiegt als Anna?
    Irene muss die Größere sein.
    Dennoch lügt Anna nicht, wenn Irene nach dem Energiegehalt von Nudelauflauf und Fischfrikadellen fragt. Irene ist zu faul, sich selbst über irgendetwas zu informieren, und es wäre leicht, sie hinters Licht zu führen, was es bei Menschen ohne Kalorienbewusstsein immer ist. Für Anna ist es nur unbegreiflich, dass einer Frau das Kalorienbewusstsein vollkommen fehlen kann.

ANNA
VERZICHTET
GANZ auf Kartoffeln, noch ehe sie mit ihrer Esszirkusschule beginnt. Als sie beginnt, nimmt die Gier nach Süßem in Annas Magen immer mehr Raum ein, bis darin für nichts anderes mehr Platz ist. Alles außer Süßigkeiten ist nicht nur ekelhaft, sondern auch vollkommen überflüssig. Kein warmes Gericht ist ordentliches Sicherheitsessen, weckt aber auch nicht solche Gelüste, dass es zu dem gefährlichen Essen gezählt werden müsste. Warmes Essen zu verzehren ist schlicht vollkommen sinnlos – was hat es für einen Sinn, Kartoffelbrei in sich hineinzustopfen, wenn man stattdessen etwas essen kann, das man wirklich will, ja, auf das man Heißhunger hat, oder etwas, mit dem man garantiert abnimmt, wie Gurken oder Tomaten?
    Die fünfzehnjährige Anna isst vielleicht nicht so wie die anderen, aber na und? Anna erbricht sich nicht, und Anna hat kein Untergewicht. Anna kann also diese Essstörung nicht haben, von der in den Zeitungen gefaselt wird. Anna hat einfach nur ein Mittel gefunden, wie sie das essen kann, was sie will – jedenfalls zwischendurch –, und trotzdem nicht zunimmt.

IN
EINER
FINNISCHSTUNDE sollte jeder seinen eigenen Stammbaum zeichnen, Irene und ich mussten unseren nacheinander vorlesen. Irene begann und erzählte, dass ihr Großvater aus Weißrussland stammte. Von dort war ihr weiß russischer Großvater allein mit dem Zug gekommen, und ich wunderte mich nicht laut, warum von dort nicht die ganze weiß russische Familie nachgekommen war, obwohl ich das hätte tun sollen, denn es war doch merkwürdig; bei allen anderen, die von irgendwoher aus Russland gekommen waren, zog die Familie immer nach. Obwohl niemand sonst in der Klasse das begriff, so war mir doch klar, was an Irenes Erzählung so seltsam war. Ich äußerte meine Verwunderung auch dann nicht, als ich mit Irene allein war, denn damit wäre ich ihr zu nahe getreten. Über manche Dinge spricht man einfach nicht.
    Nach Irene war ich dran. Ich hatte mir Matias, einen Dorfkaufmann irgendwo in der Provinz Häme, ausgedacht, und Alma, seine Frau, sowie ihre drei Kinder, die Postfräuleins oder Feuerwehrleute oder etwas anderes hinreichend Gewöhnliches in einer ausreichend großen Stadt wurden, in Helsinki konnten die meisten Personen meines erdachten Stammbaums verschwinden und auch dort geboren werden.
    Nichts an Irene verriet ihr Wissen, dass mein Stammbaum erlogen war. Und als ich Irene ansah, bewirkte ihr Glaube an mich, dass ich meine Geschichte als Wahrheit vortrug, so wie ich auch sonst gesprochen hätte, aber dank Irene war ich noch sicherer, am allersichersten. Die anderen erzähltenAnekdoten über ihre Familie, die Lehrerin fragte nach und brachte sogar ein Gespräch in Gang, und ich schaffte es endlich einmal, so mittelmäßig zu sein, dass ich nichts gefragt wurde.
    Irenes unerschütterlicher, glatter Nacken.
    Auf dem Pult meine trockenen Hände, die nicht zitterten.
    Und als in der Geschichtsstunde über die Sowjetunion gesprochen wurde, hob ich den Blick nicht vom Pult und meine Hand auch dann nicht, als über die finnischen Roten und Weißen gesprochen und gefragt wurde, ob jemand etwas über seine Familie und diese Dinge zu erzählen habe. Das hatte niemand. Niemand aus der ganzen Klasse hatte etwas dazu zu sagen. Worum ging es doch gleich?
    Niemanden interessierte es, niemand wusste etwas. Sie waren ganz aufrichtig gleichgültig. Ich konnte nicht verstehen, wie sie hatten vergessen können, wie konnten sie immer noch so uninformiert sein. Jenseits der Grenze sind die Ereignisse von vor fünfzig Jahren Gegenwart, die Spuren der Bombardierungen sind in der Stadt immer noch sichtbar, Sibirien hat die Hälfte der Familie verschlungen und die Angst als neue Wurzeln der Familie verankert. Hier dagegen besteht der Zweite Weltkrieg aus Ribbentrop und der Landung in der Normandie – auch für die Jungs, die sich für

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