Stalins Kühe
gehabt hatte, dass diese nach Frankreich exportierte Blumenerde in so gutem Kunststoff verpackt war, dass man daraus ausgezeichnete, jahrelang haltende und auch als Valuta taugende Plastiktüten machen konnte. Im Vergleich zu den einheimischen Stofftaschen waren auch die Turba-Taschen westlich genug.
Es konnte ein Mann mit Pfeife im Mund sein, der auf dem Parkplatz gegenüber in seinem Auto saß, jetzt schon seit mehreren Stunden. Oder jemand, der einen in der Stadt umrannte, sodass man auf die Straße fiel, der um Verzeihung bat und unbedingt die Reinigungskosten für den Mantel bezahlen wollte. Es konnte die Frau mit dem Lockenkopf sein, die im Flugzeug neben Mutter saß, als die Maschine vonMoskau nach Tallinn startete, und die zu lesen versuchte, was Mutter in ihren Kalender schrieb, die Mutters Meinung über eine Zeitungsmeldung, den Journalisten, den Generalsekretär der Partei und die Frau des Generalsekretärs sowie deren Kleid wissen wollte, die den Duft von Mutters Parfum bewunderte und fragte, woher sie das habe. Mutters Lippenstift war von kräftigem Rosa und so auch Mutters Schuhe, was für eine Farbe! Woher sie die habe, na, und erst Mutters Taschenrechner! Solche Dinge gebe es in der Sowjetunion nirgends, und Mutter sei doch Sowjetbürgerin? Es habe ihr doch wohl niemand diese Dinge mitgebracht? Sie habe doch wohl keinen ausländischen Freund? Oder doch?
Und die Frau hatte Mutter so gern, dass sie sie für den nächsten Tag zum Kaffee einlud und ihr ihre Telefonnummer in Tallinn gab, denn solche Gesinnungsgenossen treffe man doch sehr selten, nicht wahr? Mutter hatte nicht einmal bestätigt, dass sie in Tallinn wohnte, bestätigte aber durch Nicken, dass sie in das bezeichnete Café kommen werde.
Mit blinkenden Goldzähnen umarmte die Frau sie zum Abschied, und Mutter glaubte schon, sie los zu sein, doch eine Woche später kam dieselbe Frau in einem Lebensmittelgeschäft von Mustamäe, in der Nähe von Mutters Quartier, auf sie zu und plauderte, was für ein Zufall! Wie erstaunlich! Sie wohne dort ganz in der Nähe! Die Frau lachte golden und sagte, es mache nichts, dass Mutter nicht zur verabredeten Zeit in das Café gekommen sei, man habe ja nicht immer Lust dazu, aber dann ein andermal, vielleicht jetzt gleich, es wäre schön, Mutters Wohnung zu sehen. Wenn sie Kuchen mitbrächte, würde Mutter dann Kaffee kochen?
Die KGB – Schnüffler waren meistens keine Intelligenzbestien.
Eine Spitzelin dürfte auch die Frau mit der warmdunklen Stimme gewesen sein, die in Finnland und aus Finnland, vom Zentrum derselben typisch finnischen Stadt aus anriefund sagte, sie habe Mutters Telefonnummer von der Sicherheitspolizei bekommen, als sie für sich einen finnischen Pass beantragt habe, man habe sie dort aufgefordert, sich mit Mutter bekannt zu machen, da sie ja aus demselben Land stammten, du kommst doch zum Kaffee, nicht wahr?
Wieder vereinbarte Mutter höflich ein Treffen, aber ging natürlich nicht hin.
Die Tochter der Frau mit der warmdunklen Stimme und Anna kommen später in dieselbe Klasse. Als Erstes sagt das Mädchen zu Anna, ihre Mutter sei Estin. Erst dann nennt sie ihren Namen. Irene.
Anna freut sich, in ihrem Innern gibt es einen Ruck, als würde dort eine Sonne entstehen, aber sie sagt nichts. Schwester.
Anna und Irene werden die besten Freundinnen.
Anna sagt niemals etwas, woraus ihre estnische Herkunft hervorgehen würde. Und sie sprechen niemals darüber.
Aber über ein gemeinsames, ein großes Geheimnis sprechen sie, kleine Mädchengeheimnisse haben natürlich alle Mädchen, aber dieses eine ist so groß, dass es nichts mit einem kleinen zu tun hat. Es ist das Thema Ernährung. Das Essen. Das gemeinsame Lesen von Rezepten. Das Stehlen von Kochbüchern in der Bibliothek. Die Jagd auf kostenlosen Kaffee und Kuchen in den Geschäften, im Dezember das Wandern von Geschäft zu Geschäft dem Weihnachtsmann hinterher, der an die Kinder Bonbons verteilt.
Ursprünglich wiegt Irene weniger als Anna, am Anfang von Annas Esskarriere, obwohl die Mädchen gleich groß sind und zu den größten in ihrer Klasse gehören. In drei Jahren des Lavierens beim Essen verliert Anna so viel Gewicht, dass sie weniger wiegt als Irene, was Irene dazu bringt, Anna um Rat zu fragen. Irene ist noch mehr gewachsen und wird anscheinend immer größer und größer. Das gehtnicht. Irene will abnehmen, und Anna soll ihr erzählen, wie sie das gemacht hat. Über Zeichnungen und Pinsel gebeugt leitet Anna Irene an,
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