Stalins Kühe
Annas Mutter backt guten Apfelkuchen und gute Kekse. Irenes Mutter backt nicht, Irene backt selbst, wenn sie etwas Gebackenes haben will, oder sie kommt zu Anna. Anna hat immer etwas, wenn nicht, dann in der Tiefkühltruhe. Als Irene erstmals Anna besucht, sagt sie, sie habe noch niemals irgendwo einen so vollen Kühlschrank gesehen, und wundert sich, ob Anna nicht fürchte, dass, wenn sie den Kuchen nicht ganz aufisst, sondern im Kühlschrank lässt, er nicht mehr da ist, wenn sie sich wieder etwas davon holen will.
Nein, das fürchtet Anna nicht. Der Kuchen ist ja vor allem für Anna gebacken worden, und Annas Eltern essen nichts davon, solange nicht ganz sicher ist, dass Anna nichts mehr davon möchte. Vati würde sich wohl mal ein Stückchen davon abschneiden, aber die Mutter verbietet es ihm. Vati braucht angeblich nicht von allen Leckerbissen zu kosten.
Irene erzählt, was mit ihr passierte, als sie noch so klein war, dass sie nicht an das Brot auf dem Tisch heranreichte. Irene bat ihre Mutter, ihr das Brot zu reichen, aber die Mutter sagte, nimm einen Stuhl. Irene holte einen Schemel und kletterte hinauf, aber der Tisch war leer. Der Freund der Mutter hatte sich aus dem restlichen Brotlaib Butterstullen gemacht.
IRENE
UND
ANNA tanzen mit denselben Jungs und kaufen sich ähnliche Kleider, ähnliche Fingerhandschuhe mit Kunstpelzrand und ähnliche Wildlederstiefel, sie kaufen zusammen lose Bonbons und verbringen jeden Tag nach der Schule viele Stunden zusammen auf der Schaukel. In der Oberstufe wird das Schaukeln vom Herumlungern in der Stadt abgelöst. Über die Kontaktvermittlung verabreden sie Telefon-Dates und locken jeden möglichen Mann, der gerade in der Leitung ist, zu einem Treffen auf dem nahe gelegenen Parkplatz des Siwa-Supermarkts, gehen hin, spähen um die Ecke und lachen so, dass sie in den Schnee purzeln. Wir glauben nicht an die Liebe! Ein Verhältnis ohne Betrug gibt es nicht! Das beweist jeder Papi, der sich einen runterholt, während er in der Leitung ist, und dann auf den Parkplatz kommt. Jeder Mann, der um ein Päckchen mit Slip fleht, bestätigt all das, was wir schon immer gewusst haben. Dass man gegen Sex sonst was bekommt, dass es sinnlos ist, von Liebe zu faseln, dass man immer die Herkunft und die finanzielle Lage des Mannes überprüfen muss und dass der Mann einen sofort zumindest in Gedanken betrügt.
Von derselben Freude strömt Anna über, wenn sie alle drei, Mutter, Anna und Vati, ins Sommerhaus zu Vatis Arbeitskollegen zu Besuch fahren. Jussi ist Annas Patenonkel. Sein Lieblingssatz lautet: Neben mir schläft eine Frau nicht. Mutter sagt, sie habe noch niemals einen so hässlichen Mann gesehen. Einen so kleinen und hässlichen. Und so große, junge und schöne Huren wie in Moskau an Jussis Arm. Niehat Mutter ihn zweimal mit demselben Mädchen gesehen, und Mutter sah ihn oft, als sie noch jenseits der Grenze wohnte, denn Jussi ist einer von Vatis besten Freunden.
Auf dem Hof des Sommerhauses grillt Jussis Frau einen Wurstring und beklagt, dass Jussi im Urlaub immer so müde sei, die Arbeit auf Montage sei immer so anstrengend, er könne nicht mal grillen, obwohl das traditionell zu seinen Aufgaben gehöre. Dieses Theater! Jussi liegt nach der anstrengenden Dienstreise in der Hängematte, und Mutter bemüht sich, dem Geplauder von Jussis Frau zuzuhören, ohne die Augenbrauen zu heben. Anna sitzt ein paar Meter entfernt und sieht zu, wie sich auf dem Gesicht der Mutter der Wunsch abzeichnet, Jussis Frau zu fragen, ob sie wirklich nichts wisse, sie kann doch nicht so dumm sein, dass sie nichts weiß! Es ist doch unmöglich, dass sie nicht begreift, dass Jussis Müdigkeit der Kater nach wochenlangem Saufen ist, und dass sie nicht darauf kommt, dass Jussi die leistungssteigernden Reformprodukte keineswegs wegen des hektischen Arbeitstempos dosenweise kauft, sondern um trotz des zunehmenden Alters seine Potenz zu gewährleisten, denn er kann den jungen Russinnen in Moskau nicht widerstehen.
Der Besuch in Jussis Sommerhaus ist eine Ausnahme. Mutter beendet allmählich alle privaten Beziehungen zu Vatis Freunden, seit sie nach Finnland übergesiedelt ist. Mutter sagt, sie könne die Gesichter von deren Frauen, den dummen Kühen, nicht ertragen. Oder zumindest hat sie nicht vor, deren Wohnung zu betreten, und die Männer dieser Kühe kämen ihr nicht ins Haus. Im Urlaub sehen Vati und seine Kollegen sich kaum, aber immer mal wieder kommt ihnen jemand auf der Straße entgegen, mit
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