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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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den Zweiten Weltkrieg interessieren und wissen, was eine Pistole Makarow ist und wie die Gewehre der gemeinen Soldaten aussehen.
    Nur wenige Male während meiner Schulzeit brauste ich im Hagel der Russenwitze auf und verteidigte Russen und Esten, sie alle, die hundertdreißig verschiedenen Völkerschaften der Sowjetunion, und war dabei für eine Unbeteiligte ein wenig zu heftig, ein wenig zu aggressiv, fühlte mich in meiner Informiertheit überlegen und hätte mich beinahe verraten. Schon als Fünfjährige wusste ich, dass der flächenmäßig größte Staat der Erde die Sowjetunion war,denn ich besaß einen Wasserball, auf dem die Sowjetunion so rot leuchtete wie ihre Fahne, aber ich musste für mich behalten, warum ich etwas wusste, was die anderen nicht wussten, und deshalb war es das Beste, das Wissen und die Existenz des Balls zu verschweigen. Ich wusste von Großvaters Tabakdose, dass das Wappen Estlands drei Löwen aufwies, und ich wusste, dass man sie, versteckt in Großmutters Schublade mit den Tüchern, aufbewahren musste, denn so etwas zu besitzen war ein Verbrechen. Ich wusste von den Injektionen, die nach der Besetzung dem ganzen Dorf verabreicht worden waren, aber Großvater war zu betrunken gewesen, um irgendwohin zu gehen. Ob diese Injektion ein ähnliches Mittel enthielt wie die Bremse der Armee, mit der die Penisse der Soldaten ruhiggestellt wurden? Oder genügte die Angst, um aus den übrig gebliebenen Menschen eine Schafherde zu machen, die nicht einmal zu blöken wagte? Obwohl ich das Wort »Besetzung« nicht benutzte, und auch niemand sonst, es hieß einfach nur »die Ankunft der Russen«, die Verbreitung der roten Scheiße und »deren« Ankunft, »deren, die von hinter Narva kamen«, oder »von denen, die aus Sibirien kamen«. Venelased, die Russen.
    Damals, als nicht viel fehlte, und ich wäre ausgerastet, brachte Irenes Kühle mich wieder zur Besinnung, ich brauchte nur zu spüren, dass ihr Körper sich in demselben Zustand befand, und es gelang mir, den Mund zu halten.

BEVOR
ANNA
DIE Kalorientabellen auswendig lernt, stellt sie sich für ihr Essverhalten Regeln auf. Zunächst isst sie nach sechs Uhr abends nichts mehr. Das wäre leicht, wenn Anna nicht so lange aufbliebe. Um fünf vor sechs stopft sie sich die letzten Piroggenstücke in den Mund und Müsli, sodass sie fast erstickt. Das Frühstück ist anfangs eine Mahlzeit, bei der Anna so viel essen kann, wie sie will, bis sie begreift, dass ihr der Verzicht auf das Frühstück am allerleichtesten fällt, weil sie danach in die Schule geht und dort nicht alle fünf Minuten nachsehen kann, was im Kühlschrank ist, obwohl dort dieselben Käse und Joghurts sind wie fünf Minuten zuvor; in der Schule konzentriert sich Anna auf die Schule, und so muss sie das Frühstück natürlich weglassen. Und da Anna sich aus dem warmen Schulessen nichts macht, außer um ihrer Mutter etwas vorzumachen, geht sie dazu über, erst nach der Schule etwas zu essen. In der Oberstufe bleibt sie mit Irene nach der Schule in der Stadt und läuft dort mindestens eine Stunde lang herum, sodass es schon fast sechs Uhr ist und sie es eilig hat, an den Kühlschrank zu kommen.

AN
DEN
WIEGETAGEN ist Anna Irene eine Stütze. Für Irene ist der Wiegetag ein Straftag. Dann erfährt sie, wie viel sie wiegt. Irenes Mutter trägt das in Irenes Kilobuch ein. Auf dem Buchdeckel prangt ein Bild von Irene mit Rattenschwänzchen und herausstehendem Nabel.
    Datum, Größe, Gewicht. Einmal pro Woche. Irene ist nicht brav gewesen. Unartige Irene. Irene ist böse. Davon zeugt gerade die Zahl, die die Mutter in Irenes Kilobuch einträgt. Irene hat wieder zu viel gegessen. Wo hat Irene eigentlich das zusätzliche Essen her? Die Mutter hat jeden Bissen von Irene gezählt, jeden Schluck, Irenes Mutter kann nicht verstehen, wie das möglich ist. Irenes Mutter fordert Irene auf zu antworten. Irenes Gewicht ist wichtig, weil Irenes Mutter zu viel wiegt und Irene in dieser Beziehung nicht das Ebenbild ihrer Mutter werden darf. Irene muss warten, bis sie verheiratet ist. Dann darf sie essen. So hat es auch Irenes Mutter gemacht. Als junges Mädchen war sie so gelenkig! Dann heiratete sie Irenes Vater, zog nach Finnland, bekam vier Kinder und begann zu essen. Auch die Scheidung hat daran nichts mehr geändert.
    Manchmal versteckt Anna Irene in ihrem Zimmer und holt aus der Küche Apfelkuchen und Kekse, die ihre Mutter gebacken hat. Wenn Irene Angst hat, dann isst sie, und sei es am Wiegetag.

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