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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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mit Apfelsinengeschmack und Vitamin C steht er, und die aß ich.
    Ich lutschte auch Pfefferminzpastillen, den Klassiker der Anorektiker, wie ich es von den anorektischen Zwillingen aus Birmingham gelernt hatte. Deren Fotos waren die ersten Bilder von Anorexiepatienten, die ich sah. Soweit ich mich erinnere, in der Zeitschrift Sieben Tage . Michaela und Samantha Kendall wetteiferten in Magerkeit und aßen zuletzt nur noch Pfefferminzpastillen. Sie sind erst kürzlich gestorben, Michaela 1994, Samantha 1997, natürlich an den Komplikationen der Anorexie. Zähe Ziegen beide, und man muss ihnen Respekt dafür zollen, dass sie so lange in diesem Zustand überlebt haben. Wahrlich zäh. Oder sie hatten einen zähen Herrn.
    Ich möchte wetten, dass jeder Mensch sich an den ersten Anorektiker erinnert oder an das Bild von einer Anorektikerin, das er gesehen hat, sie sind die Lieblinge der Klatschpresse, ebenso wie alles, was mit dem Gewicht zu tun hat, natürlich, ist doch die Anorexie eine Prinzessinnenkrankheit, jede Frau, die hungert, um schlank zu werden, wird eine Prinzessin, und jede Hungerkur ist ebenso eine Nachricht wie die Geburt des ersten Kindes eines Promis und wie die Märchenhochzeit einer Miss. Die Zentimeter eines Frauenkörpers sind ebenso wichtig wie die Staatsgrenzen. Genau definiert, und jede Veränderung ergibt eine Schlagzeile.
    Als ich die Geschichte von den anorektischen Zwillingen las, dachte ich keinen Augenblick lang, ich könnte mit ihnen irgendetwas gemein haben, erschrak aber vielleicht ebenso wie alle anderen über das, was einen an Fotos von Anorektikern so schockiert, nämlich dass das aus Horrorfilmen, von KZ – Fotos in Geschichtsbüchern und von den vanitas vanitatum-Themen bekannte Skelett ein schreiend grelles amerikanisches Kleid trägt, zu dessen Trägerin immer ein krampfhaftes Lächeln gehört, sowie eine Wimperntusche, für die gerade im Fernsehen geworben wird und von der man genauso lange Wimpern bekommt. Das ist ebenso kurios wie die Mona Lisa mit Bügeleisen. Diese beiden Welten passen nicht zusammen. Sie schließen einander aus. Ebenso wie ich und die typisch finnische Kleinstadt.
    Ich war immer ganz sicher gewesen, dass aus mir niemals eine solche KZ – Prinzessin würde, in deren Innerem ein Hungertod stattfindet, aus der aber auf die Wimpern geklebte kleine Diamanten einen Star machen. Von dem nicht einmal ein schöner Körper übrig bleiben würde.

1974
    Nachdem Richard Sofia abgeschüttelt hat, wartet er, bis die Türen der Kirche geschlossen werden und die Orgelmusik bis nach draußen zu hören ist, dann steigt er auf den Aussichtspunkt neben der Kirche, der passenderweise menschenleer ist, klettert auf die massive Balustrade und springt hinunter.

HUKKA
WAR
ZU gut für mich.
    Im Grunde … hatte ich es in Hukkas Gesellschaft zu leicht, und zwar von Anfang an, und jetzt dauerte das schon ein halbes Jahr.
    Das war etwas, was mir bisher noch nicht begegnet war. Leichtigkeit gehörte nicht zu dem Umgang mit Menschen. Die Zeit mit Irene, meiner Schwester, war gut gewesen, denn unser Zusammengehörigkeitsgefühl war stark. Aber es war nicht leicht. Der Umgang mit Hukka war ausgesprochen leicht. Und das bedeutete, dass etwas Schlimmes geschah. Nicht wahr? So war es doch immer. Wenn das Leben leicht war, ließ die Wachsamkeit immer mehr nach. Und das war nicht gut für mich, denn dann tat ich immer etwas, bei dem ich erwischt wurde, bei dem ich Spuren hinterließ, die ich nicht hinterlassen sollte, wenn ich weiterhin in Sicherheit sein wollte. Vor etwas.
    Nach einem halben Jahr der Leichtigkeit horchte ich in meiner Wohnung auf die Stille. Ich ging in die Küche. Fing an zu essen. Wieder dasselbe. Alles außer dem Essen war besorgniserregend, in der Stille konnte man nichts anderes tun als essen.
    Ich fühlte mich zu sicher.
    Ich hatte angefangen, unbekümmert zu reden. Das hatte ich noch nie getan. Immer hatte es zwischen meinen Gedanken und dem laut ausgesprochenen Satz eine kaum merkliche Verzögerung gegeben. Darüber hatte ich niemalsnachzudenken brauchen, auch in Irenes Gesellschaft war das selbstverständlich gewesen, aber jetzt hatte diese Verzögerung angefangen, sich zu verringern, zu schrumpfen, und ich musste ihr Schwinden stoppen, diese Verzögerung musste es geben, diese Verzögerung, die es mir immer ermöglicht hatte zu überlegen, ob ich eine Sache laut sagen konnte und ob ich sie so sagen konnte und ob ich sie gerade dieser speziellen Person sagen konnte,

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