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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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ob es ganz sicher war, dass ich mir keine Blöße gab, ob ich die andere Sache schon eben dieser Person erzählt hatte, sodass ich ihr auch diese mitteilen konnte, oder ob ich sie nicht erzählt hatte. Ich merkte mir immer, was ich wem erzählt hatte und wer was wusste, ich musste immer wachsam sein, um zu wissen, was geschah, wer fortging, wer die falschen Dinge sagte, wer gleich weg sein würde, ich musste nur wachsam sein, dann würde ich mit allem zurechtkommen, immer bereit zu was auch immer. Warum verstand Hukka, mein Hukkalein, das nicht, verstand überhaupt nicht, wie sehr ich mich verändert hatte in den zehn Kilo Zeit, in denen ich während der sechs leichten Monate mal zwei Kilo zu-, mal wieder zwei Kilo abgenommen hatte, insgesamt zehn Kilo, ich war immer unbekümmerter geworden, hatte sogar angefangen, mir die Zähne in einer anderen Reihenfolge zu putzen als in der Zeit meiner Esszirkusschule, mal begann ich mit den oberen Zähnen, mal mit den unteren, mal rechts, mal links und wusste am Tag zuvor nie, wo ich am nächsten Tag beginnen würde.
    Hinzu kam, dass ich nur noch dann meine Gymnastik machte, wenn ich Lust dazu hatte, das heißt, immer seltener. Zehn Jahre lang hatte ich immer dasselbe Programm durchgezogen. Zuerst dauerte es zehn Minuten, dann entwickelte ich es so, dass es zuletzt zwei Stunden in Anspruch nahm. Wenn ich die Gymnastik am Vortag hatte ausfallen lassen, holte ich sie am nächsten Tag nach und machte zusätzlich auch noch die Gymnastik dieses Tages. Die Nachholgymnastik musste ich machen, auch wenn das bedeutete, dass ich der Eile wegen die Bauchübungen morgens vor der Schule machte, die Schenkelübungen in der Pause im Schul- WC , was mir einiges an Akrobatik abverlangte, aber das bewältigte ich spielend, die Poübungen nach der Schule in der Toilette der Bibliothek, die restlichen Übungen dann zu Hause, und die neue Gymnastik am Abend. Niemand hat jemals erfahren, dass ich jeden Tag mindestens zwei Stunden trainierte. Das hätte ich niemals zugegeben. Das war dasselbe, wie wenn ich zugegeben hätte, dass ich Diät lebte. Das hatte ich ja nicht nötig. Mein Knochengerüst und mein Stoffwechsel und alles Mögliche waren einfach so fantastisch, dass ich mich um solche Dinge nicht zu kümmern brauchte. Wenn die anderen sich um so etwas kümmern mussten, dann mussten sie es halt. Eijei. Wie bedauernswert. Geradezu traurig, lachte ich.
    Es war wirklich ein Glück, dass Hukka diese Veränderungen nicht bemerkte. Ich habe sie Hukka niemals direkt offengelegt, nur gesagt, dass die Verzögerung zwischen meinen Gedanken und meinen Worten geringer geworden sei. Und dass ich nicht so vertrauensvoll sein dürfe, aber Hukka hat den Grund meiner Besorgnis wohl nicht verstanden.
    Ich war überzeugt, dass Hukka mir sehr bald auf die Schliche kommen würde, obwohl ich nicht genau wusste, in welcher Hinsicht. Weil mir allzu verräterische Kommentare über meine Tallinnreisen herausrutschten? Oder weil die Fahrt zu meiner Tante gar nicht nach Lempäälä ging, sondern nach Haapsalu? Weil ich mit einer falschen Größe am falschen Ort war und in einer Anprobekabine zu kleine Hosen klaute, auf den letzten Drücker in den Supermarkt hetzte, das Telefon aus der Wand zog und mich auf eine veritable Fressorgie vorbereitete? Weil ich behauptete, etwas anderes zu sein als das, was ich war, oder weil ich manchmal etwas im Bett tat, wenn ich allein war, obwohl Hukka fand, dass ich da auf keinen Fall allein sein sollte?

    Wegen irgendetwas würde ich auffliegen, das war sicher. Das musste ich verhindern. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Wieder einmal. Etwas oder jemanden?

AN
EINEM
UNSERER gemeinsamen Morgen wollte Hukka, kaum dass ich die Augen geöffnet hatte, etwas erraten. Ob das erlaubt sei? Ich antwortete, ja. Hukka wollte wetten, dass ich nicht sehr oft mit klarem Kopf ins Bett gegangen sei. Wieso denn nicht? Ich wollte eine Begründung, aber nur, um Zeit für eine Antwort zu gewinnen. Ich war erschrocken und hellwach und brauchte Zeit, um mich zu sammeln und mein Garn zu entwirren, aber Hukka sprach nicht weiter, sondern sah mich nur an. Ich hätte sagen können, dass ich tatsächlich gerade mit Hukka zum ersten Mal ohne Rausch im Bett gewesen war. Aber so etwas sagt man nicht. So etwas kann man nicht sagen. Wie nackt wäre ich dann gewesen! Nackter denn je. Nackter, als ich jemals ohne Kleider gewesen bin. Aber eigentlich bin ich ja ohne Kleider nicht nackt. Ich hatte noch keine solche

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