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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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noch klein war und wir immer mit der Georg Ots fuhren. Dass die Wände des Terminals damals aus grünem Wellblech waren und dass die Mutter Angst hatte, sich ihm zu nähern. Die Grenzer in ihren grünen Uniformen. Die Hunde. Die Desinfektionsmatten. Mutter, kannst du die Taschen tragen? Bestimmt? Mutter bemühte sich, mit der Schlange Schritt zu halten. Unten würde es immerhin Gepäckkarren für die Taschen geben. Die endlosen Treppen vom Schiff an Land, Blech oder was, dazwischen sah man das Meer.
    Hukka mein Hukkkalein, wir waren dort, jedes Jahr, viele Male, Mutter und ich.
    Aber A. Hukka rauchte, als wäre dort im Fernsehen nichts Besonderes, und ich sagte nichts, trank nur meinen ewigen Kaffee.
    Jetzt! Im Fernsehen wurde Haapsalu! gesagt. Hukka wollte auf ein anderes Programm umschalten. Ich sagte, ich wolle diese Sendung sehen, aber der Film im vierten Programm hatte schon angefangen. Haapsalu. Dort wohnt meine Tante. Hukka dachte, meine Tante wohne in Lempäälä.
    Als Hukka während der Werbung ins Badezimmer ging, schaltete ich schnell um, aber die Sendung über Haapsalu war schon vorbei.

    Hukka hatte meine Sehnsucht nicht gestillt. Ich wollte nach Hause. Mit Hukka nach Hause.
    Warum wollte ich plötzlich Dinge erzählen, von denen ich niemals jemandem erzählt hatte? Was war los mit mir? Warum wollte ich Hukka in Großmutters Haus das Zimmer zeigen, in dem ein Soldat versteckt gehalten worden war, der in der deutschen Armee gedient hatte? Und das Haus in Tallinn, in das Großvater zum Verhör gebracht worden war? Die Stelle, wo früher die Konditorei gewesen war, in der man die allerbesten glasuurkoogit , Kuchen mit Zuckerguss, bekommen hatte. Die Priima-Zigaretten, die mein Onkel zu rauchen pflegte. Die Sandschaufel auf dem Fensterbrett, auf der meine Tante die toten Fliegen sammelte. Die schlanken Beine einer Estin auf der Pikk-Straße. Den Fußboden des Milchladens, in dem es keine Löcher, keinen Schmutz mehr gibt. All das ging Hukka nichts an und auch sonst niemanden.
    Oder war es wieder nur mein durchtriebener Herr, der mir solche Gedanken einflüsterte? War es mein Herr, der mich dazu bewegen wollte, Hukka zu verlassen, weil Hukka es schaffte, dass ich zu gut aß, seine Pläne aber als meinen eigenen Wunsch tarnte, etwas zu tun, was ich ja doch niemals umsetzen würde? Spürte mein Herr, wie Hukkas Hände die Macht meines Herrn über mich schwächten? War das der Grund dafür, dass Hukkas Arme mir hier in Finnland scheinbar nicht mehr genügten und ich irgendwo anders Arme ausprobieren wollte, zum Beispiel in meinem Moskau, wo ein ausländisches Auto die Menschen veranlasste, sich die Hälse zu verrenken, und wo die Straßen siebzehn Fahrstreifen in einer Richtung hatten und in der Metro Rolltreppen aus Holz waren. Dorthin wollte ich, obwohl es in den Restaurants nur Pepsi und Fanta zu trinken gab, die seit der Moskauer Olympiade mit der Sowjetunion einen Vertrag hatten, und der Kellner nicht verstand, warum ich keins von beiden wollte. In mir erregten sie Widerwillenund die Besorgnis, das Slawische könnte zu blauen Pepsi-Buchstaben und zu Ronald-McDonald-Clowns amerikanisiert werden. Vor dem ersten McDonald’s von Moskau war eine Schlange von dreißigtausend Menschen entstanden und zugleich das professionelle Schlangestehen; man konnte für Geld jemanden mit seiner Bestellung beauftragen, der das Schlangestehen als Arbeit betrieb.
    In Haapsalu wollte ich mich hinter den Schlachthof verirren, wo meine Tante einmal spätabends einen Schinken an den Kopf bekommen hatte, als gleich mehrere über den Zaun des Schlachthofs auf den Weg geworfen wurden. Meine Tante hatte durch ihre Ankunft wohl den eigentlichen Empfänger in die Flucht geschlagen. Ich wollte zurück in das Raekojan plats , ein Geschäft für Reiseandenken neben dem Rathausmarkt, in dem die imposanten Brüste der Russinnen mich fast in die Luft hoben, so ein Gedränge herrschte dort. Neben mir praktizierte Mutter unbekümmert ihre Trampeltechnik und trat jedem auf die Zehen, der sich in dem vollen Laden allzu heftig vordrängelte. An dem vorderen Rand der Ladentheke gab es auf Schenkelhöhe der Erwachsenen eine Art Bord für die Taschen, aber Anna kletterte mit den Knien darauf, sodass ihre Füße gewollt oder ungewollt nach hinten etwas Raum schafften. Auch Mutter setzte ein Knie auf das Brett und hielt die Swetlanas entsprechend ihrer Beinlänge auf Abstand. Sie wurde mit wütenden Blicken bedacht, und jeder Tritt auf die nackten, aus

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