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Stalins Kühe

Stalins Kühe

Titel: Stalins Kühe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofi Oksanen
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den Sandalen hervorquellenden Zehen der Russinnen rief außer finsterem Anstarren eine Flut von russischen Verwünschungen hervor, aber niemals etwas Größeres.
    Zu dieser Zeit gab es noch in keinem einzigen Geschäft auch nur die Spur eines Sicherheitsmannes. Alle Waren befanden sich ausschließlich hinter dem Ladentisch. Die Sicherheitsleute kamen erst mit der Privatisierung, bis sie zur Jahrtausendwende überall waren. Das Souvenirgeschäft war immer berstend voll von Leuten, eine Stunde Schlangestehen war selbst in einem so kleinen Laden keine Seltenheit. Nicht alle Leute dort waren Käufer, viele wollten die Waren nur prüfen. Jeder wollte ein Lederkästchen, ein Lesezeichen aus Leder oder blumenbestickte Pantoffeln gezeigt bekommen, drehte und wendete sie eine Weile in der Hand, beratschlagte mit der Freundin und erbat von der Verkäuferin noch etwas anderes, um es genauer betrachten zu können. Wenn die Swetlana sich mit ihrer Freundin und ihrer Tochter gründlich über den Gegenstand ausgetauscht hatte, beschloss sie dann doch, ihn nicht zu nehmen. Die Verkäuferin stand die ganze Zeit daneben und wartete. Oft waren Mutters Nerven so angespannt, dass sie sagte, sie wolle das und das kaufen, sie wisse, was sie kaufen wolle, ob sie den Gegenstand jetzt gleich bekommen könne. Die beiden Verkäuferinnen, die sich Zeit ließen, waren an guten Tagen manchmal so freundlich, uns zwischen zwei Warenvorstellungen das zu geben, was wir haben wollten.
    Und die Haare an den Beinen, die rissigen, verhärteten Fersen, die behaarten Muttermale, die Schnurrbärte, die fahnenroten Lippenstifte, und das alles an ein und derselben Frau.
    Das Anrempeln war ein selbstverständliches Mittel, um vorwärtszukommen, niemand von all den Kaufwilligen wartete jemals abseits, sondern die ganze Volksmenge wollte gleichzeitig an den Ladentisch.
    Die abgestandene Luft.
    Die Rechenbretter.
    Die Untertassen, die ihre Kaffeetasse verloren hatten und auf die das Wechselgeld geworfen wurde.

WARUM
HÄTTE
ICH Hukka nicht von allem erzählen sollen, was zu Annas Welt gehörte, da ich doch auch von meinen Essgewohnheiten so viel erzählt hatte? Wo ich doch dazu Lust hatte. Natürlich nicht alles, aber doch sehr viel. Zumindest mehr als sonst irgendjemandem. Der Gedanke war mir völlig neu. Hatte doch auch von meinen Essgewohnheiten niemand außer Irene etwas gewusst. Wenn es nun genauso war, wenn ich von Annas Welt erzählte? Wäre das so gefährlich? Hukka davon zu erzählen? Aber vielleicht würde Hukka nicht verstehen, wie wichtig mir diese Dinge waren. Vielleicht würde Hukka kein Wort hören. Vielleicht würde Hukka nur aufstehen und sich vor den Fernseher setzen.
    Was, wenn Hukka genau dann die Zeitung aufschlagen würde, wenn ich ihm von dem Souvenirgeschäft und den rissigen Fersen und den Eisenzähnen und den Brüsten erzählte, die mich in die Luft hoben? Was, wenn Hukka genau dann den Fernseher einschaltete? Wenn Hukka den Mund zu einem Gähnen öffnete oder einfach, um zu sprechen? Würde ich dann jemals wieder den Mut finden? Irgendjemandem gegenüber? Noch einmal den Mund aufzutun? Wenn Hukka irgendetwas anderes als meinen Mund öffnen und so meine aufkeimende Rede ersticken würde? Dann würde ich vielleicht niemals wieder. Zu niemandem.
    Der Gedanke, Hukka könnte so etwas dem Stolz antun, den ich auf alles empfand, was zu Annas Welt gehörte, und meiner Schande – dieser Gedanke war unerträglich. Ein solches Risiko konnte ich nicht eingehen. Das Risiko war zugroß und ich zu klein. Meine fünfundvierzig Kilo hätten das nicht ertragen. Und doch.
    Wäre es nicht herrlich gewesen, zusammen mit Hukka nach Tallinn zu fahren, vom Schiff aus das Meer zu betrachten und unter Flieder spazieren zu gehen? Wäre es nicht herrlich gewesen, sich im Park von Kadriorg oder auf den Feldern von Läänemaa zu küssen, wenn die Sonne unterging und die Grillen zirpten? Wäre es nicht herrlich gewesen, Hukka den Friedhof zu zeigen, auf dem meine ganze Sippe durch die Jahrhunderte begraben wurde, wäre es nicht wunderbar gewesen zu erklären, von hier stamme ich? Das hier liebe ich?
    Wenn ich Hukka doch Haapsalu komisjo , den Gebrauchtkleiderladen von Haapsalu, hätte zeigen können, dessen Haus auf Hochglanz renoviert wurde und nun ein Reisebüro beherbergte. Damals knarrte die Ladentür von den kleinen und großen Stößen beim Öffnen, und die Klinke war ewig schief. In dem alten Holzhaus, dessen Farbe abschilferte und dessen Fenster sich fast

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