Stalins Kühe
probiert die gestreiften Hosen und Trainingshosen an, die Mutter mitgebracht hat, und ist sofort begeistert, sie muss sie haben und blättert einen Stapel Rubel auf den Tisch. Anna sitzt etwas abseits und beobachtet – für Anna sind die Sachen, die aus der Tasche zum Vorschein kommen, genauso überraschend wie für Olja, Anna hat sie noch nicht gesehen, höchstens ganz kurz in der Nacht des Packens in der typisch finnischen Kleinstadt. Dort holt Mutter eine Jeans nach der anderen hervor, Sportjacken, Turnschuhe, T-Shirts, Schuhe, Sämereien für Großmutter, die besser keimen als die sowjetischen, Grabkerzen und künstliche Blumen für Vaters Grab, obwohl sie meistens schnell gestohlen werden, aber mit etwas Glück bleibt eine vielleicht länger liegen, damit Großmutter sich nicht ständig um das Grab kümmern muss. Anna weiß nicht, woher all die Sachen kommen, die sich am Fußboden des Wohnzimmers neben den Koffern angehäuft haben, Anna war beim Einkaufen nicht dabei gewesen, hatte nicht gewusst, dass Mutter sie gekauft hatte, denn Anna weiß nicht, wie oft Mutter aufBeschaffungstour in die Stadt geht, wenn Anna in der Schule ist. Wenn Anna nach Hause kommt, sind die Sachen schon in Regalen und Schränken verstaut. Obwohl Großmutter Mutter immer wieder warnt, es könnte Vati möglicherweise nicht gefallen, dass Mutter die Sachen fuderweise über die Grenze schleppt, versteht Anna nicht, warum Mutter Anna derselben Seite zurechnet wie Vati. Dass sie sich Anna gegenüber nicht über günstige Hosen für Maria freuen oder Marias unmöglichen Wunsch nach einem Mantel mit einem bestimmten Muster verfluchen kann. Anna versteht nicht, warum sie nicht dabei sein kann, denn Anna ist immer gern in Geschäfte gegangen. Anna möchte niemals etwas von den mitzunehmenden Sachen für sich haben, sodass auch das kein Problem gewesen wäre. Anna hätte alle Schlussverkäufe für Mutter abklappern können!
Eigentlich ist es Anna niemals auch nur in den Sinn gekommen, von irgendeiner Sache in einem Geschäft oder einem eigenen Kleidungsstück zu denken, man könnte es über die Grenze zum Verkauf oder als Geschenk oder Bestechung mitnehmen. Dagegen werden alle alten Kleider von Irene nach Estland mitgenommen. Und von allem, was Irenes Mutter für sie kauft, ihr aber nicht gefällt, sagt Irene nur, das macht nichts, das kann Mutter nach Estland mitnehmen, zieht das T-Shirt aus und wirft es auf den Boden. Sie würde sowieso über kurz oder lang eines bekommen, das wirklich nach ihrem Geschmack ist. Wenn Irene ein Kleidungsstück satthat, fordert sie ihre Mutter auf, es nach Estland mitzunehmen. Irgendjemandem dort passt es auf jeden Fall. Irene findet es schon ganz uninteressant, in Finnland wagt sie es nicht mehr zu tragen, aber für dort eignet es sich sehr gut.
1977
Auf dem Weg vom Hafen Helsinki in die typisch finnische Kleinstadt hielten Katariina und ihr finnischer Mann an einigen Tankstellen, und Katariina aß eigentümliche Piroggen, die karelische Piroggen heißen. Auch die Tankstellen waren eigentümlich: strahlend und voller großer Lichter und Leuchtreklamen, und kaum hatte man die eine Tankstelle passiert, kam einem schon die nächste entgegengestürzt. Es war dunkel, regnerisch und kalt, und je weiter sie fuhren, desto weniger Laubbäume gab es. Katariina war zum ersten Mal in Finnland und musste, sobald sie am Ziel waren, auf ihre Absatzschuhe verzichten, denn darin schaffte sie es kaum durch den Matsch bis in ihr neues Heim. Das neue Heim war die Überraschung ihres Mannes. Es war von einer Wohnung in Helsinki die Rede gewesen, aber der Mann hatte beschlossen, seine Frau durch den Kauf einer gerade fertig gewordenen Wohnung in der typisch finnischen Kleinstadt zu erfreuen, viele Hundert Kilometer von der Küste und von Helsinki entfernt, dafür aber war es nur eine kurze Fahrt bis zu den eigenen Eltern.
Natürlich hätte Katariina das Land ihres Mannes gern vorher kennengelernt, aber schon allein ein Touristenvisum zu bekommen war schwierig, selbst wenn der Ehemann bereit war, für die Unterhalts- und Wohnkosten seiner Frau aufzukommen, und dann hätten sie noch vier Jahre warten müssen, um das nächste Mal ein Visum für das Kapland zu bekommen, vorher hätte sie nicht dorthin reisen können, auch wenn sie inzwischen oder davor geheiratet hätten.Warten und Schlangestehen und Papiere und Anträge hatte es schon genug gegeben. Katariina besorgte sich ein Umzugsvisum und ging auf einen Schlag fort, total und
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