S.T.A.L.K.E.R. 04 - Zone der Verdammten
Bernsteinsee kamen, desto höher wurde die Anomalieaktivität. Und damit schied übergroße Hast von selbst aus —wenn man weiterleben wollte. Beeilen sollte man sich sowieso nur dann, wenn man Flöhe fangen wollte. Das bläute ich auch den Jägernein; sie sollten auf der Hut sein.
Um die allgegenwärtige Gefahr ein weiteres Mal zu demonstrieren, stach ich vorsichtig mit einem abgebrochenen Ast in ein absolut unsichtbares Vogelkarussell. Der Ast wurde mir aus den Händen gerissen, durch die Luft gewirbelt und zerfetzt. Holzsplitter prasselten auf die Jäger und mich herab.
Wir passierten ein weiteres verlassenes Dorf. Auf dem alten, verbogenen und verrosteten Schild konnte man nur noch die Endung„... ischi" lesen.
Vor der ersten Katastrophe war die Gegend um Tschernobyl dicht besiedelt gewesen, und die Dörfer schossen wie Pilze aus dem Boden. Jetzt waren sie alle tot, und nur noch Plünderer machten hier ab und zu Halt für eine Nacht.
Wir umgingen in dreißig Metern Entfernung ein altes Dreirad mit rotem Sitz, das mitten auf der Straße stand. Dazu mussten wir zweimal über einen niedrigen schwarzen Zaun klettern. Der Zaun trennte ein halb zerstörtes Holzhaus und einen Garten mit Apfelbäumen,der in den letzten Jahren so sehr gewuchert hatte, dass er jetzt einem hässlichen Dschungel glich, von der Straße.
Die Touristen wunderten sich etwas, fragten aber nicht weiter nach und dachten wahrscheinlich, dass ich ihnen die sagenumwobene Stalkerintuition demonstrieren wollte. Von Schkilet, der eines Tages einfach mal so gegen dieses Fahrrad getreten hatte, war noch nicht einmal eine Leiche übrig geblieben, nur ein Paar Tropfen Blut im Straßenstaub. Und eine Woche später lief hier ein Kumpel von Schkilet vorbei, den man Bismarck nannte, und schoss aus Rache für seinen Freund aus zwanzig Schritt Entfernung auf das Fahrrad.
Von Bismarck blieb interessanterweise etwas mehr übrig — seine Clankollegen konnten zumindest eine mittelgroße Plastiktüte für ein Begräbnis füllen. Von da an versuchten alle Stalker dieses Artefakt so weit wie nur möglich zu umgehen. Es zählte zu den seltensten und gefährlichsten in der ganzen Zone.
„Hey, Bruder!", ertönte es plötzlich aus den Tiefen des Gartens. „Stalker! Hilf mir ..."
Die Touristen blieben stehen und sahen mich fragend an. Ich kniff die Augen zusammen und bedachte den Apfeldschungel hinter uns mit einem scharfen Blick.
„Stalker!", winselte die leidvolle Stimme erneut, „ich sterbe! Hilf mir, Bruder!"
„Da ist einer. Er scheint verletzt zu sein”, sagte Camacho halblaut. „Vielleicht sollten wir ihm helfen."
„Nur die Ruhe", sagte ich und entsicherte mein Gewehr. „Überlasst das mir. Sterbenden Herumtreibern zu helfen ist mein Hobby."
Ich legte das Gewehr an und feuerte, ohne zu zielen, auf die schwarzen Bäume. Nasse Baumrinde flog in alle Richtungen, ein ohrenbetäubendes Kreischen erklang. Durch die Bäume hindurch sah ich den braunen Rücken eines Pseudowesens, das mit allen Kräften zu entkommen versuchte. Es war sinnlos, das Biest durch das dschungelartige Gelände zu verfolgen oder ihm hinterher zu schießen.
„Woher wusstest du, dass es kein Mensch ist?", fragte Martin.
„Stalkerintuition." Ich lachte auf.
Die Stimme von Pseudowesen konnte man mit nichts verwechseln — sie klang alt, brüchig und hatte ein rollendes „R". Im Vergleich zu den meisten Zonenkreaturen waren Pseudowesen recht dumm —dafür aber umso heimtückischer. Meist verfolgten sie verwundete Stalker und plapperten ihnen einfach alles nach, was sie hörten. Und wahrscheinlich würde das von mir aufgescheuchte Vieh eines Tages in seinem Versteck sitzen und eben die Sätze vor sich hin murmeln,die es von uns aufgeschnappt hatte. Frischfleisch würde daraufhin aufmerksam werden und nachschauen wollen, wer denn da um Hilfe rief. Das Biest würde dann ein fürstliches Mal bekommen und wusste von da an, dass es mit diesen Tönen einen guten Köder auslegen konnte — immer wieder.
In beachtlichem Tempo schafften wir noch weitere Kilometer und näherten uns dem Gebiet des Agroproms. Es hieß so, weil sich in diesem Zonensektor ein ehemaliges Institut für Forschung und Entwicklung befand, das Agroprom hieß.
Um das Institut herum tummelten sich ständig Kriegsstalker. Freie Stalker gingen recht in der Annahme, dass es sich um ein weiteres ehemaliges Geheimlaboratorium handelte, das zwischen den beiden radioaktiven Katastrophen erbaut worden war.
Die Trümmer
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