Star Trek Voyager06 - Die Ermordete Sonn
Frucht.
Trauer schimmerte in Natas Augen, als sie kaute. »Ich bin die letzte Viha dieser Region, und ich hatte keine Zeit, einen Nachfolger zu unterweisen. Wir Vihas sind Hüter der Geschichten, Bewahrer des Historischen. Wenn ich sterbe, bevor ich die Geschichten weitergeben kann… Dann sterben sie vielleicht mit mir.«
Sie tastete nach dem großen Anhänger an ihrem Hals. »Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß unsere historischen Aufzeichnungen in erster Linier verbaler Natur sind. Was wir einmal hören, bleibt für immer in unserer Erinnerung.«
Das die Stimme betreffende Äquivalent eines fotografischen Gedächtnisses, dachte Chakotay. Eine interessante, vielleicht auch wichtige Information.
»Anahu erwähnte es«, sagte der Erste Offizier. »Er erklärte, Sie >erinnerten< sich an die vergessene Technik. Und Sie meinten, Sie hätten in den Geschichten nach einer Wahrheit gesucht, die das Gewand von Legenden trägt. Geben Sie mir ein Beispiel. Wie erinnerten Sie sich an die Höhlen mit den Raumschiffen?«
Nata lächelte, und der Glanz ihrer Augen trübte sich ein wenig. »Das ist einer der inspirierendsten Geschichten überhaupt. Es geht dabei um die Seelenreise zur Wahrheit. Stunden wären nötig, um sie ganz zu erzählen, und deshalb fasse ich sie zusammen.
Jeder von uns hat eine Seele, ebenso wie alles, das uns umgibt: Erde, Ozeane, der Himmel. Jede Seele ist unterwegs, bis sie ihren Bestimmungsort erreicht. Während ihrer Reise findet sie Freunde: Mut, Glaube, Freundlichkeit, Überzeugung, Weisheit und Liebe. Die Geschichte erzahlt, wie die Seele alle sechs Wächter findet und von ihnen lernt. Mit ihrer Hilfe gelangt sie schließlich ans Ziel.«
Nata beobachtete den Besucher aufmerksam, um festzustellen, ob er die tiefere Bedeutung ihrer Ausführungen verstand. Zunächst zeigten sich Verwirrungsfalten in Chakotays Stirn. Die Legende von einer Seelenreise gab es in vielen Kulturen, und für gewöhnlich stellte sie eine Allegorie dar. Worauf wollte die Viha hinaus?
Und dann begriff er.
»Überzeugung«, kam es leise von seinen Lippen. »Das Schiff Überzeugung . Und die anderen heißen Mut, Glaube, Freundlichkeit …«
» Weisheit und Liebe «, beendete Nata den Satz. Es freute sie ganz offensichtlich, daß Chakotay verstand.
Eine Ahnung prickelte in dem Ersten Offizier, und er glaubte fast, die Präsenz des Schutzgeistes aus seinen Meditationsträumen zu spüren.
»Und… die Seele?« fragte er leise.
»Beenden Sie die Mahlzeit«, sagte Nata ernst. »Anschließend bringe ich Sie zur Seele unseres Volkes.«
Chakotay nahm eine Flasche mit, die aus dem glatten, gehärteten Schlamm bestand. Er füllte sie mit Wasser - eines der ältesten und immer noch besten Mittel gegen Dehydration. Nach einigen Marschminuten in der schwülen Hitze war er froh, diese Maßnahme ergriffen zu haben.
»Ich gehe diesen Weg fast jeden Tag«, sagte Nata, als sie neben dem Ersten Offizier wanderte und darauf achtete, keine zu langen Schritte zu machen. »Ob es regnet oder die Sonne scheint. Den Ort zu sehen… Es hilft mir dabei, nachzudenken und mich zu erinnern. Dort fiel mir die Legende von der Seelenreise ein. Ich hoffe, daß mit Ihrer Hilfe weitere Erkenntnisse möglich sind.«
»Das hoffe ich ebenfalls«, erwiderte Chakotay und atmete schwer.
Wahrend der Wanderung sah er sich immer wieder um, und dabei wuchs seine Bestürzung. Gelegentlich mußten sie über das Gerippe von Tieren hinwegsteigen. Bäume verfaulten, neigten sich knirschend zur Seite und prallten mit einem dumpfen Pochen auf den Boden.
Einmal drehte der Wind und blies ihnen einen solchen Gestank entgegen, daß Chakotay erbleichte. Er schluckte mehrmals, kämpfte gegen die Übelkeit an und versuchte, die letzte Mahlzeit im Magen zu behalten.
Nata verharrte an seiner Seite, und während er sich von seinem olfaktorischen Schock erholte, zeigte sie ein sehr sonderbares Verhalten: Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, streckte den langen Hals und sang.
»Ich trauere, o sterbende Sonne.
Ich trauere, Sterne, die ihr leuchtet in der Nacht.
Ich trauere, o Wasser, das den Tod in sich fragt.
Ich trauere, o Erde, aus der nichts mehr wächst.
Der Sonnenfresser hat dich verflucht.
Der Sonnenfresser verflucht auch mich.
Der Fluch des Sonnenfressers lastet auf uns allen.«
Chakotay lauschte. Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm er seinen Insignienkommunikator ab und deaktivierte den automatischen Translator. Dadurch konnte er sich ganz
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