Stark (Dark Half) - King, S: Stark (Dark Half) - The Dark Half
sich unter ihrem Gewicht.
»Oh, mein Gott«, wiederholte er und hörte seine Stimme wie aus einer Entfernung von Millionen Meilen, eine Stimme, in der Grausen lag und entsetzliche Verwunderung. »Oh, mein Gott, sie sind real - die Sperlinge gibt es wirklich.«
Auf die Idee, daß es so sein könnte, war er nie gekommen - aber jetzt hatte er keine Zeit, darüber nachzudenken, keinen Verstand, mit dem er nachdenken konnte. Plötzlich war das Bild vor dem Fenster seines Arbeitszimmers verschwunden, und an seiner Stelle sah er den Teil von Bergenfield, in dem er aufgewachsen war. Er lag so schweigend und verlassen da wie das Haus in seinen Stark-Alpträumen; er schaute in einen schweigenden Vorort in einer toten Welt.
Aber ganz tot war sie nicht: auf den Dächern sämtlicher Häuser drängten sich tschilpende Sperlinge. Alle Fernsehantennen waren voll von ihnen, und alle Bäume. Sie reihten sich auf allen Telefondrähten. Sie saßen auf den Dächern geparkter Autos, auf dem großen blauen Briefkasten, der an
der Ecke von Duke Street und Marlborough Lane stand, und auf dem Fahrradständer vor dem Gemischtwarenladen in der Duke Street, in dem er als Junge oft Milch und Brot für seine Mutter gekauft hatte.
Die Welt war voll von Sperlingen, die auf den Befehl zum Auffliegen warteten.
Thad Beaumont ließ sich auf seinem Schreibtischstuhl zurücksinken, Speichel rann ihm aus den Mundwinkeln, seine Füße zuckten ziellos, und jetzt drängten sich die Sperlinge vor dem Fenster seines Arbeitszimmers wie merkwürdige geflügelte Zuschauer. Ein langes, gurgelndes Geräusch entfuhr ihm. Seine Augen verdrehten sich, das vorstehende, glitzernde Weiße kam zum Vorschein.
Der Bleistift berührte das Papier und begann zu schreiben.
MIRIAM
kritzelte er unter die oberste Zeile. Dann rutschte er zwei Zeilen tiefer, machte das L-förmige Einrückzeichen, das bei Stark den Beginn jedes neuen Absatzes markierte, und schrieb:
Die Sperlinge flogen.
Ganz plötzlich schwangen sie sich alle in die Luft, die in seinem Kopf aus dem weit zurückliegenden Bergenfield und die vor seinem Haus in Ludlow - die wirklichen Sperlinge. Sie schwangen sich auf in zwei Himmel: einen weißen Frühlingshimmel im Jahre 1960, und einen dunklen Sommerhimmel im Jahre 1988.
Sie flogen, und dann waren sie mit gewaltigem, mächtigem Flügelrauschen verschwunden.
Thad richtete sich auf - aber seine Hand war nach wie vor an den Bleistift genagelt, wurde mitgezogen.
Der Bleistift schrieb automatisch.
Ich habe es geschafft, dachte er benommen und wischte sich mit der linken Hand den Speichel von Mund und Kinn. Ich habe es geschafft und ich wünschte bei Gott, ich hätte die Finger davongelassen. Was ist das?
Thad starrte auf die Worte, die aus seiner Hand herausströmten, und sein Herz klopfte so heftig, daß er den Puls intensiv und rapide in der Kehle spürte. Die Sätze, die auf die blauen Linien sprudelten, zeigten seine Handschrift - aber schließlich waren alle Stark-Romane in seiner Handschrift geschrieben worden. Angesichts der gleichen Fingerabdrücke, des gleichen Zigarettengeschmacks und exakt der gleichen Stimmeigenheiten wäre es schon sehr merkwürdig, wenn es die Handschrift von jemand anderem wäre, dachte er.
Seine Handschrift war so, wie sie immer gewesen war - aber woher kamen die Worte? Nicht aus seinem eigenen Kopf, soviel war sicher; dort war im Augenblick nichts als Entsetzen, überlagert von fast unerträglicher Verwirrung. Und in der Hand hatte er kein Gefühl mehr. Sein rechter Arm schien ungefähr fünf Zentimeter über dem Handgelenk zu enden. In den Fingern empfand er keine Spur von Druck, obwohl er sehen konnte, daß er den Stift so fest umkrampft hielt, daß die Spitzen von Daumen, Zeige- und Mittelfinger weiß waren. Es war, als hätte er eine kräftige Novocainspritze bekommen. Selbst als seine Hand wieder zu schreiben begann, fühlte er nichts.
Thad begriff mit wachsendem Entsetzen, daß er eine Beschreibung des Mordes an Miriam Cowley las - und diesmal war es kein verworrenes Durcheinander von Wörtern, sondern die brutale, detaillierte Darstellung eines Mannes, der auf seine eigene gräßliche Art ein überaus effektvoller Schriftsteller war - so effektvoll, daß Millionen von Leuten seine Romane gekauft hatten.
George Starks Sachbuch-Debut, dachte er angewidert,
Er hatte genau das getan, was er vorgehabt hatte: er hatte Kontakt aufgenommen, Starks Denken angezapft, genau so, wie Stark das seine angezapft haben mußte.
Weitere Kostenlose Bücher