Stark (Dark Half)
gewisser Hinsicht war es, als schliefe er ständig und bewegte sich nur aus einem Traum in den anderen. In dieser Hinsicht glich sein Leben - das bißchen Leben, an das er sich erinnerte - einer Unzahl ineinandersteckender Kästchen oder dem Blick in ein endloses Spiegelkabinett.
Dieser Traum war ein Alptraum.
Er kam langsam aus einem Schlaf, von dem er wußte, daß es im Grunde kein Schlaf gewesen war.
Irgendwie war es Thad Beaumont gelungen, ihn für kurze Zeit einzufangen; er hatte es für kurze Zeit geschafft, ihn seinem Willen zu unterwerfen. Hatte er etwas gesagt, etwas offenbart, während Beaumont ihn beherrscht hatte? Ihm war, als könnte er das getan haben - aber er war sich auch ziemlich sicher, daß Beaumont nicht imstande war, zu interpretieren, was er gesagt haben mochte, oder das Wichtige vom Belanglosen zu unterscheiden.
Außerdem holten ihn Schmerzen aus dem Schlaf.
Er hatte im Osten von Greenwich Village, nahe der Avenue B, zwei Zimmer gemietet. Als er die Augen öffnete, saß er an dem schiefen Küchentisch, ein aufgeschlagenes Notizbuch vor sich. Ein Rinnsal von hel rotem Blut rann über die verblichene Wachstuchdecke, die auf dem Tisch lag, und daran war nichts Verwunderliches, denn in seiner rechten Hand steckte ein Kugelschreiber.
Jetzt begann der Traum zurückzukommen.
Damit hatte er es geschafft, Beaumont aus seinem Kopf zu vertreiben; es war die einzige Möglichkeit gewesen, das Band zu sprengen, das dieser feige Scheißkerl irgendwie zwischen ihnen geknüpft hatte. Feige?
Ja. Aber er war auch gerissen, und es wäre ein Fehler, das zu vergessen. Ein sehr schwerer Fehler.
Stark konnte sich vage erinnern, geträumt zu haben, daß Thad bei ihm war, in seinem Bett - daß sie miteinander redeten, miteinander flüsterten; anfangs hatte er das als angenehm und seltsam tröstlich empfunden - wie wenn man sich abends nach dem Löschen des Lichts mit einem Bruder unterhält.
Aber sie hatten mehr getan, als sich nur unterhalten, oder?
Sie hatten Geheimnisse ausgetauscht - oder vielmehr, Thad hatte ihm Fragen gestellt, und Stark hatte sie beantwortet. Es war angenehm, sie zu beantworten, es war tröstlich, sie zu beantworten. Aber es war gleichzeitig beängstigend. Anfangs waren es vor allem die Vögel gewesen, die ihm Angst eingejagt hatten. Warum fragte Thad immer wieder nach irgendwelchen Vögeln? Es gab keine Vögel. Viel eicht hatte es sie früher einmal gegeben — vor langer, langer Zeit—, aber jetzt nicht mehr. Es war nur ein Gedankenspiel, ein kindischer Versuch, ihn hereinzulegen. Dann waren seine hochentwickelten Überlebensinstinkte allmählich in seine Angst eingedrungen, sie hatten an Schärfe und Deutlichkeit gewonnen, während er bemüht war, sich aus dem Schlaf herauszukämpfen. Er hatte das Gefühl, unter Wasser gehalten zu werden, zu ertrinken ...
Daraufhin war er, noch immer in diesem Zustand halben Wachseins und halben Träumens, in die Küche gegangen, hatte das Notizbuch aufgeschlagen und den Kugelschreiber in die Hand genommen. Zu nichts von al edem hatte Thad ihn aufgefordert; weshalb sol te er auch? Schrieb Thad, fünfhundert Meilen entfernt, nicht gleichfalls? Natürlich war der Kugelschreiber falsch - er fühlte sich nicht einmal richtig an in seiner Hand-, aber es mußte gehen. Fürs erste.
Falle auseinander, hatte er sich schreiben sehen, und da war er dem Zauberspiegel, der den Schlaf vom Wachsein trennt, sehr nahe gewesen. Er hatte sich bemüht, dem Kugelschreiber seine eigenen Gedanken aufzudrängen, mit seinem eigenen Willen zu bestimmen, was auf dem leeren Blatt Papier erschien und was nicht, aber es war schwer, o Gott, o Herr im Himmel, es war verdammt schwer.
Er hatte den Kugelschreiber und ein halbes Dutzend Notizbücher in einem Schreibwarenladen gekauft, kurz nachdem er in New York eingetroffen war; hatte es getan, noch bevor er dieses elende Loch mietete. In dem Laden hatte es auch Berol-Bleistifte gegeben, und er hatte sie kaufen wollen, aber er hatte es nicht getan.
Denn einerlei, wessen Verstand die Bleistifte in Bewegung gesetzt hatte - es war Thad Beaumonts Hand gewesen, die sie gehalten hatte, und er mußte wissen, ob das ein Band war, das er zerreißen konnte. Also hatte er auf die Bleistifte verzichtet und statt dessen den Kugelschreiber gekauft.
Wenn er schreiben konnte, wenn er von sich aus schreiben konnte, dann war alles in bester Ordnung, und er würde dieses elende, winselnde Geschöpf dort oben in Maine überhaupt nicht brauchen.
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