Stark gegen Stress
sie uns überwältigen und wir ihnen ausgeliefert sind, wenn wir sie nicht kennen und folglich nichts dagegen tun können.
In Nina M.s Fall ist es das Konstrukt der sozialen Bewertung, das aktiviert wird. Nina hat schon als kleines Mädchen gelernt, dass es negativ ist, aufzufallen. Wenn sie neugierige Fragen stellte, wenn sie vielleicht sogar eine Aussage des Lehrers in Zweifel zog oder beharrlich nachfragte, wurde sie unmissverständlich in die Schranken gewiesen. Sie erlebte, dass es den Eltern unangenehm war, wenn sie etwas tat, was die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog: etwa wenn sie sich beim Geigenspiel amSchülerkonzert vergriff und dadurch auffiel; wenn sie als Einzige inmitten ihrer Mitschülerinnen weinte oder wenn sie laut herumalberte und andere sie vorwurfsvoll anblickten. Sie spürte, dass die Eltern ihr Verhalten missbilligten; sie wiesen Nina zurecht oder bestraften sie mit Liebesentzug. Nina lernte, dass man nur dann das Wohlwollen der Eltern oder anderer Erwachsener hat, wenn man in seinem Verhalten nicht von dem der anderen abweicht, sich im Griff hat, nicht unnötig auffällt und sich immer angemessen und korrekt verhält – so «wie es sich gehört».
Diese Haltung hat Nina verinnerlicht; auch als erwachsene Frau verhält sie sich weitgehend regelkonform, achtet übermässig auf die Bewertung der anderen, möchte nicht negativ auffallen, keinen Anlass zu Kritik und Blossstellung geben. Kleine Freiheiten, wie bei Rot über die Strasse zu gehen, nimmt sie sich aber doch hin und wieder heraus. Mit einer augenzwinkernden Zurechtweisung des Rentners wäre Nina vermutlich klargekommen. Doch dem deplatzierten Tadel für ihr Verhalten und der neugierigen Aufmerksamkeit der Passanten hält sie nicht stand: Auf einmal fühlt sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das für jedes vermeintliche Fehlverhalten abgestraft wurde. Sie wird traurig und fühlt sich gekränkt, doch fast noch schlimmer sind die Gefühle der Scham – Scham darüber, wie früher als kleines Kind abgekanzelt geworden zu sein und sich dies heute noch, als 40-jährige Frau, einfach so gefallen lassen zu haben, ohne Gegenrede, ohne den alten Mann zurechtgewiesen zu haben. Nina ist in ihr altes Muster hineingeraten, ihr Konstrukt ist aktiviert worden.
TIPP Ein Ereignis stresst Sie, und Sie fühlen sich auch nach Stunden und Tagen noch immer mies, wenn Sie an diese Sache denken? Dann können Sie davon ausgehen, dass die Sache tiefer geht, dass ein persönliches Konstrukt aktiviert, einer Ihrer wunden Punkte getroffen wurde. Es lohnt sich, der Sache nachzugehen, zum Beispiel mit der Trichtermethode (siehe Seite 201).
Die Spirale dreht sich
In der Paarbeziehung kann die Aktivierung eines Konstrukts zu zusätzlichen Irritationen und Verletzungen führen – dann nämlich, wenn das Gegenüber die Reaktion des Betroffenen nicht nachvollziehen kann, Unverständnis zeigt, zu rasch Ratschläge gibt oder zu schnell über die Sache hinweggeht. Und das ist die Regel, denn wie sollte man den ge stressten Partner auch verstehen können, ohne die Vorgänge in seinem Innern zu kennen? Ninas Partner denkt, dass er in derselben Situation vor allem Ärger auf den alten Mann verspürt hätte. Dass sich Nina so aus der Fassung bringen liess, kann er nicht begreifen. Er geht mit seiner Bemerkung nur auf den alten Mann ein, nicht auf Nina und ihre Empfindungen. Das stresst Nina zusätzlich; sie fühlt sich nicht ernst genommen und in ihrem Stress alleingelassen. Sie versteht ja selber nicht, warum der Vorfall sie so stark hinunterzieht und sie so heftig reagiert.
VERBREITETE KONSTRUKTE
Konstrukt
Inhalt
Auslöser
Tiefere Gefühle
Soziales Bindungskonstrukt
▪ Bin ich wichtig?
▪ Bin ich liebenswert?
▪ Jemand kommt zu spät: Sie glauben, dass Sie dieser Person nicht wichtig genug sind.
▪ Eine wichtige Person kritisiert Sie: Sie befürchten, dass sie Sie nicht mehr schätzt und Ihre Beziehung darunter leiden wird.
▪ Ihr Partner will ein gemeinsames Vorhaben, das Ihnen viel bedeutet, nicht ausführen: Sie nehmen dies als Zeichen für seine mangelnde Wertschätzung und Liebe.
Gefühle, nicht geliebt zu werden, unnütz zu sein, andere zu stören, eine Last zu sein; Unsicherheit, Trauer, Verzweiflung, Einsamkeit
Soziales Bewertungskonstrukt
▪ Genüge ich?
▪ Was denken die anderen von mir?
▪ Sie halten einen Vortrag und ernten nur verhaltenes Lob: Sie fürchten, dass Ihre Leistung vielleicht als ungenügend empfunden wurde und dass die
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