Stark gegen Stress
und Kinder, denen sie ein schlechtes Vorbild hätte sein können, seien auch keine zugegen. Doch der Rentner ist nicht zum Scherzen aufgelegt. Das merkt Nina, als er in eine Tirade gegen «Weiber und Ausländer» ausbricht und diese Menschengruppen in globo beschuldigt, die Schweiz zu ruinieren, indem sie alle Regeln missachteten. Erschrocken lässt Nina den Mann stehen.
Am Rande bemerkt sie noch, dass zahlreiche Passanten auf sie aufmerksam geworden sind und neugierig oder kopfschüttelnd gucken. Sie fühlt sich ausgestellt, am Pranger, im Fokus aller Blicke, was ihr unendlich peinlich ist. Am Abend erzählt sie ihrem Mann von dem Erlebnis. Als dieser darüber lacht und den Rentner als absurden Spinner abtut, bricht Nina in Tränen aus.
Wie kommt es, dass der schimpfende Rentner Nina so zusetzen konnte? Seine Tirade ist ungerechtfertigt und lächerlich; so würde man es bei nüchterner Betrachtung sehen, so sieht es auch Ninas Mann. Für ihn ist der Vorfall lediglich amüsant, nicht weiter der Rede wert. Das kommt vor, da macht man keine grosse Staatsaffäre draus; solchen Typen geht man am besten aus dem Weg. Doch Nina kann das Ereignis nicht einfach wegstecken, sie wird überrollt von einem wahren Gefühlssturm. Dass ihr Mann über den Vorfall lacht, verstärkt Ninas Kränkung zusätzlich. Doch so richtig kann sie ihre Reaktion, ihre heftigen Emotionen, das nagende Gefühl der Minderwertigkeit und Scham, das sich in ihr ausbreitet, selber nicht verstehen.
Schmerzhafte Emotionen
Was in Nina vorgeht, ist typisch für Situationen, in denen ein sogenanntes Konstrukt aktiviert wird. Ein Konstrukt ist ein wunder Punkt, ein persönliches Thema, bei dem man besonders empfindlich reagiert. Die Stressreaktion ist dann ungewöhnlich intensiv und hallt lange nach – daran lässt sich erkennen, dass es um mehr geht als nur um die oberflächlich betrachtet unbedeutende Situation. Wie die Reaktion von Ninas Mann zeigt, findet man in diesen Situationen kaum Verständnis von anderen und auch keine angemessene Unterstützung. Meist reagieren der Partner oder andere mit Umbewertungen («Das ist doch nicht so schlimm, das war doch nur ein alter Spinner …») und gehen damit nicht wirklich auf einen ein. Das ist die zweite schwierige Situation – dass man mit diesen starken Stressgefühlen alleine gelassen wird, dass niemand einen zu verstehen scheint und dass man selber auch nicht einordnen kann, warum einem die Situation so zusetzt – zumal sie objektiv betrachtet ja häufig wirklich nicht der Rede wert ist. Doch Tatsache ist: Offenbar ist sie eben doch relevant, sonst wäre der Ärger längst verraucht.
Konstrukte: alte Geschichten mit Tiefenwirkung
In der Psychologie definiert man Konstrukte als relativ schwer veränderbare Überzeugungen, die sich in der persönlichen Lerngeschichte ausgebildet haben und die sich auf das aktuelle Denken, Fühlen und Handeln einer Person auswirken. Konstrukte färben die Wahrnehmung undBewertung einer Situation ein, indem sie Informationen, Geschehnisse usw. in einem bestimmten Licht erscheinen lassen.
INFO Aktiviert ein noch so banaler Vorfall ein Konstrukt, wird – prosaisch ausgedrückt – ein grosses Fass angezapft. Entsprechend intensiv ist der Stress: Denn jetzt geht es nicht mehr nur um den konkreten Stressauslöser, sondern um eins der ganz zentralen persönlichen Themen, das einem häufig das Leben schwermacht.
Wie ein Konstrukt entsteht
Konstrukte sind Produkte der Lerngeschichte einer Person. Erfährt ein Kind nur dann Zuneigung, wenn es gute Leistungen erzielt, so lernt es: Meine Eltern haben mich nur gern, wenn ich etwas leiste. Es speichert die Überzeugung ab, dass man nur geliebt wird, wenn man etwas Gefälliges tut, sich nützlich macht, etwas leistet – kurz, dass Zuneigung verdient werden muss. Eine solche Person wird es im Erwachsenenleben schwer treffen, wenn sie beruflich oder privat Zurückweisungen oder Misserfolge erfährt, denn in der Logik ihres Konstrukts bedeutet das, dass sie nicht liebenswert ist. Die Folge ist starker Stress, begleitet von Gefühlen wie Traurigkeit, Angst, Verzweiflung.
INFO Es gibt typische Konstrukte, die gehäuft auftreten; sie sind in der Tabelle auf den Seiten 63 und 64 aufgeführt. Wenn Sie diese Tabelle betrachten, werden Sie vielleicht bemerken, dass Sie sich beim einen oder anderen Konstrukt angesprochen fühlen. Keine Sorge: Das ist völlig normal, jeder Mensch trägt Konstrukte in sich. Problematisch werden sie dann, wenn
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