Stark gegen Stress
ist – genau wie die Leistungsfähigkeit oder die Liebesfähigkeit. Nur wenn es uns gut geht, sind wir offen für die sensorischen Reize, die uns Glücksmomente bescheren. Im Stress stumpfen wir ab und sind abgeschnitten von diesen Quellen.
Stress und Exzess
Wer sich von der Freude an den kleinen Dingen des Lebens abgeschnitten fühlt, sucht gern starke Reize in Form von exzessivem Genuss – sei es beim Sex, beim Essen oder Trinken, beim Spielen oder beim Konsumieren von TV, Internet, Games usw. Es ist gar nicht so selten, dass Stress und Genusssucht gemeinsam auftreten; Stress lässt einen leicht das gute Mass aus den Augen verlieren, man isst im Übermass, trinkt zu viel, raucht exzessiv, nimmt Drogen, zeigt sexsüchtiges Verhalten, verliert sich im Rausch von Spiel und Fantasie. Mit Genussfähigkeit hat das nichts zu tun, meist geniessen diese Menschen ihre Ausschweifungen auch nicht. Ist der Reiz verpufft, der Rausch verflogen, plagen sie sich mit Schuldgefühlen, machen sich Vorwürfe, weil sie ihre Impulse nicht kontrollieren konnten und ihre Werte mit Füssen traten – und fühlen sich schlechter als zuvor.
So wird Genussfähigkeit durch Stress doppelt beeinträchtigt: einerseits dadurch, dass viele Quellen der Freude und des Genusses wegfallen, anderseits durch Übermass, Gier und unbeherrschten Konsum. Genuss ist an und für sich ein Gegenmittel zu Stress – umgekehrt lassen sich Genuss und Stress nicht vereinen.
HINWEIS Notwendig für eine gesunde Genussfähigkeit sind weder Askese noch Überfluss und Üppigkeit, und schon gar nicht zügelloser Konsum. Auch Luxus ist weder ein Hindernis noch eine Voraussetzung für Genuss.
Ein alter Grieche als Stressexperte
Kaum zu glauben: Bereits vor rund 2300 Jahren lebte ein wahrer Stressexperte, der griechische Philosoph Epikur. Heute verbindet man den Namen fälschlicherweise oft mit ungezügeltem materiellem Genuss, üppigen Mahlzeiten, Sex, Luxus. Doch Epikurs Genussbegriff war ein anderer: Er ging davon aus, dass alle Lebewesen nach Lust streben; und unter Lust verstand er die Abwesenheit von körperlichem Schmerz und das Freisein der Seele von Unruhe, Angst, Kummer und Verwirrung.
Dabei beurteilte er die Sache rein binär: Es gab für ihn nur Unlust und Lust – nicht aber eine Steigerung von Lust. Sind die elementaren – in der Sprache Epikurs die natürlichen und notwendigen – Bedürfnisse wie etwa Hunger und Durst gedeckt, so bedeutet das bereits Lust – und mehr Lust geht nicht. Fülle und Luxus sind nicht vonnöten, um zufrieden und glücklich zu sein. Erfüllt ist man, wenn man das hat, was man braucht, und vor allem nicht nach mehr strebt, als man braucht.
Mit Vernunft zum Genuss
Epikur empfahl keineswegs, sich wahllos jedes Genusses zu bedienen, der sich präsentiert. Er propagierte im Gegenteil eine Art Lustkalkül: Freuden sollen durchaus auch mal gemieden werden, wenn sie grössere Unannehmlichkeiten – spricht Stress – mit sich bringen könnten. Anderseits sind Schmerzen auch mal auszuhalten, wenn sich dadurch eine grössere Freude ergeben kann. Gefragt ist ein Vergleichen und Abwägen der Vor- und Nachteile. Epikur plädierte ferner dafür, die eigene Seelenruhe zu bewahren, indem man Unsicherheiten aus dem Weg geht und mehr oder weniger im Verborgenen lebt. Er selbst lebte zurückgezogen in einem kleinen Garten ausserhalb Athens und philosophierte dort mit seinen Schülern.
Sehr viel Wert legte Epikur auf die Vernunft. Sie galt ihm als grösstes Gut, weil aus ihr alle übrigen Tugenden erwachsen: Es gebe «kein angenehmesLeben (…), wenn es nicht vernünftig, gut und gerecht ist, und auch kein vernünftiges und gutes und gerechtes, das nicht angenehm ist». Damit drückte er vor zwei Jahrtausenden bereits den Gedanken aus, dass es sich lohnt, Werte zu respektieren (mehr dazu siehe Seite 226).
Bleibende Weisheit
Mit seiner Philosophie erweist sich Epikur als ungemein modern. Sein Lob der Genügsamkeit und der Vernunft, sein Ruf nach einem Leben im Verborgenen: Das ist eine Absage an Luxus, an Status und Macht – an jene Dinge also, die fast zwangsläufig Stress verursachen, wenn wir sie uns nur um ihrer selbst willen zu verschaffen versuchen. Dennoch verordnet Epikur nicht etwa bedingungslose Askese; er stellt lediglich nüchtern fest, dass «diejenigen den Luxus am besten geniessen, die ihn am wenigsten nötig haben». Gerade dadurch, dass sie selbstgenügsam sind, können solche Menschen auch aus kleinen Dingen den vollen
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