Stars & Stripes und Streifenhörnchen
Wir kreisten und kreisten und kreisten und sahen beim Blick aus dem Fenster viele andere kreisende Flugzeuge, und dann sprach der Pilot: »Folks, uns geht gleich das Benzin aus …« Das trug nicht unbedingt zur Vertrauensbildung in die örtliche Luftfahrtindustrie bei. Einige Leute an Bord gerieten in Panik, die Tochter wurde stumm und weiß. Wir landeten eine halbe Stunde später in White Plains, wo sie Farbe und Stimme zurückgewann und sagte: »Ich fliege nie wieder.« Nun liegt der Flughafen von White Plains ziemlich genau zehn Minuten von unserer kleinen Stadt entfernt, aber das greise Personal wollte die protestierenden Reisenden nicht aus dem greisen Flieger lassen, weshalb die Frau beiden Töchtern einen kleinen Heulkrampf verordnete. Damals konnten die Töchter noch auf Knopfdruck heulen, und andere Kinder, Gruppendruck bestimmt, schlossen sich spontan an. Sie heulten so herzerweichend und laut und jämmerlich, dass der Kapitän kapitulierte und die Türen öffnete. Wir waren sehr stolz auf unsere Töchter.
Unsere Kleinfamilie versucht nur dann zu fliegen, wenn es gar nicht anders geht. Im Alltag benutzen wir wie alle anderen Amerikaner Autos. Amerikaner fahren viel Auto, rund 4,3 Billionen Kilometer pro Jahr, was umgerechnet elf Millionen Autoreisen zum Mond sind. Nun entsprechen wir schon deshalb nicht dem amerikanischen Durchschnitt, da wir nur einen Wagen besitzen. Statistisch, und Amerikaner lieben Statistiken, verfügt nämlich jeder US-Haushalt über 1,9 Autos für lediglich 1,8 Fahrer. Wie das mathematisch aufgeht, ist mir zwar schleierhaft, weil wir auf den Straßen hier noch nie 0,9 Auto mit 0,8 Fahrer drin begegnet sind. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass der Mann den Nahverkehrszug bevorzugt und auch Straßen nach Kräften meidet.
Offiziell gehöre ich zwar nicht in die Kaste der »Extreme-Commuters«, der Extrempendler. Das sind jene bedauernswerten Kreaturen, die eineinhalb Stunden oder länger zur Arbeit brauchen mit Auto, Zug oder Bus. Theoretisch brauche ich 35 Minuten mit dem Zug aus unserer kleinen Stadt Rye bis zum Grand Central Terminal in Manhattan. Praktisch bin ich auch oft ein Extreme-Commuter, 90 Minuten und mehr. Auch der Bahnverkehr in Amerika hat nämlich etwas Antikes, und bei Stürmen werfen sich verzweifelte Bäume vor die Schienen, oder die altersschwachen Lokomotiven versagen einfach. Die Waggons unserer Bahngesellschaft Metro North stammen bestimmt aus der Eisenhower-Ära. Die Sitze sind aus blauem und rotem Kunstleder, und die Fenster wurden mutmaßlich zum letzten Mal geputzt, als die Beatles noch zusammen waren und »Ticket to Rye« sangen. Sie haben noch Schaffner in diesen Zügen, die hellblaue Hemden tragen und eine Schirmmütze und – wie alle – ungeheuer zuvorkommend sind. Manchmal lassen sie Kinder die Stationen durchsagen oder gratulieren über Lautsprecher zum Geburtstag. Einer von ihnen sang früher die Wettervorhersage. Die Schaffner in den Zügen haben im Gegensatz zu den Delta-Saftschubsen stets gute Laune bis auf einmal im Jahr, Silvester, wenn die Besoffenen frühmorgens die Waggons besteigen. An diesem einen Tag heißt der Metro North-Zug »Vomit comet«, was mit Kotz-Express vielleicht am treffendsten zu übersetzen ist. Es ist gut, dass die Sitze aus Kunstleder sind. Silvester scheuen wir den öffentlichen Nahverkehr.
Ansonsten aber ist der Mann auf diese Züge angewiesen, die ähnlich wie die Flugzeuge selten pünktlich sind. Im Unterschied zu Flügen haben die Bahnfahrten ziemlich hohen Unterhaltungswert. Das liegt gewiss auch an singenden Schaffnern, aber nicht nur. Extrem kurzweilig ist beispielsweise der Aufenthalt im »Bar Car«, einer rollenden Abfüllanstalt, in der sie Bier und Schnaps und Wein und Chips und Erdnüsse verkaufen. Manager in Nadelstreifen trinken Dosenbier oder Jack Daniels und spielen Poker von Grand Central bis nach Connecticut. Vor Monaten war höchster Frevel im Gange, und sie wollten die »Bar Cars« abschaffen, weil die Manager oft aus dem Zug torkeln und trunken in ihre Autos steigen und nach Hause fahren oder vor verkehrswidrig geparkte Bäume. Das gab einen gewaltigen Aufschrei. Petitionen wurden verfasst, das Fernsehen berichtete ausführlich und auch die »New York Times«, und letztlich, Vox Populi!, setzte sich die Trinkerfraktion gegen die Spaßverderber durch. Die Frau hat im Übrigen ein gutes Näschen dafür, wie die Bahnfahrt aus New York in unsere kleine Stadt so war. Sie schnuppert nur und sagt
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