STASIRATTE
Alkohols langsam nachließ. Ich sah Melinda an, sie lächelte ein wenig, doch gesprochen wurde weiterhin nicht. Wir saßen in seltsam ungelenken Posen nebeneinander auf dem orangefarbenen Sofa wie bei einem Spiel, bei dem man auf Kommando der anderen Mitspieler plötzlich in der Bewegung verharren musste. Als wir uns dieser Tatsache bewusst wurden, war uns beiden sehr zum Lachen zumute und wir umarmten uns – wie Schwestern.
* * *
Ich sehe sie schon von Weitem an den Grundstücken entlangradeln, immer wieder Halt machen und in ihrer großen Posttasche wühlen. Nach und nach werden die Briefkästen meiner Nachbarn gefüttert. Gestern war mein Kasten wieder geflaggt worden. Der schwarz-rot-goldene Tadel rutschte aus einer Werbezeitschrift in meine Hände. Während der Septembergruß mir nur ein mürrisches Kopfschütteln abnötigen konnte, trifft mich der Oktobergruß in einer aktiveren Phase.
„Hören Sie“, ich versuche die Postbotin mit einem warmherzig flehenden Blick zu erweichen, „das geht jetzt schon Monate so. Ist Ihnen das noch gar nicht aufgefallen?“ Sie sieht mich kurz an, interessiert sich aber nicht besonders für meine Ansprache. „Ich bekomme immer so komische Karten mit einer DDR-Fahne drauf“, versuche ich es in beiläufigem Ton.
Sie schaut mich irgendwie geistesabwesend an und erwidert nichts. „Also da versucht jemand, mich zu ärgern oder schlimmer noch, mich bloßzustellen vor anderen, indem er behauptet, ich wäre bei der Stasi gewesen.“ Ihr Gesichtsausdruck verändert sich nicht. Hat sie nur nicht zugehört oderweiß sie nicht, was ich meine? Weiß sie nicht, dass ich diese Karten bekomme, die sie mir doch in den Briefkasten tut, oder weiß sie nicht, was ich mit Stasi meine? Das Letztere kann wohl kaum der Fall sein. Die Nation verarbeitet gerade das Enttarnen eines Moderators und eines Trainers und die Medien helfen ordentlich dabei. Also tut sie nur so oder was ist hier los?
„Sie können doch die Annahme verweigern“, antwortet sie schließlich mit ausdrucksloser Stimme, „und zurücksenden zum Absender.“ „Geht leider nicht. Denn die sind anonym“, antworte ich. „Aber Sie wissen, wer das schickt, ja?“
„Ja, weiß ich.“
„Hm, da kann ich auch nicht helfen, ich kann sie nicht verschwinden lassen“, sagt sie, ohne dass ich den Eindruck gewinne, dass sie das Thema irgendwie aufwühlt oder interessiert. „Nein, klar, das können Sie nicht, aber danke.“ Sie nickt kurz, ohne zu lächeln und ohne mich anzusehen und radelt davon.
Etwas verspätet komme ich auf den Gedanken, dass sie vielleicht tatsächlich gar nichts von der Besonderheit meiner Karten bemerkt hat. Sie sind wohl etwas grell mit ihrer Fahne, aber dann umdrehen und lesen, das Postgeheimnis brechen? Wahrscheinlich hat sie auch gar keine Zeit dazu, noch wahrscheinlicher gar kein Interesse.
Dann habe ich es jetzt sicher geweckt.
* * *
Eine willkommene Abwechslung vom Bankettalltag brachte ein Kurzeinsatz anlässlich des 30. Jahrestags der Gründung der Republik in einem anderen Interhotel der Stadt. Die Betriebe der Interhotelkette halfen sich gegenseitig, wenn wegen der Veranstaltungen der Partei- und Staatsführung, die gern die großzügigen repräsentativen Räumlichkeiten der Hotels in Anspruch nahm, jede Hand gebraucht wurde. Ich meldete mich freiwillig und machte im Hotel am Alexanderplatz neben einerMenge neuer Arbeitserfahrungen die Bekanntschaft eines Kollegen, der mir meine erste eigenständige Wohnstätte vermittelte. In der Beziehung zu seiner Freundin gab es seit Längerem dieses Pingpong: Mal zog er bei ihr ein, dann wieder aus, dann wieder ein ... und in gerade letzterem Zustand machte er mir das Angebot, sein Untermietsverhältnis zu übernehmen.
Denn obwohl ich mich mit Cora nach meiner missglückten Eskapade wieder vertragen hatte, beinhaltete diese Art des Wohnens doch zu viele Zwänge und Rücksichtnahmen, so dass ich auch für unbequeme Übergangslösungen empfänglich wurde. Cora hatte sich natürlich genauestens berichten lassen, was sich in jener Nacht abgespielt hatte. Nach meiner von ziemlicher Peinlichkeit begleiteten Schilderung saßen wir uns auf unserem Sofa leicht verkrampft gegenüber. Es war Zeit für mich zu gehen, war die Einsicht, die anschließend in der Luft lag. Meine Experimentierlust hatte etwas Solides zwischen uns beiden zerstört.
Mein Kollege, dessen Vorzüge in einer charmanten Dominanz lagen, schlug vor, mir diese Unterkunft mal in Ruhe nach
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