STASIRATTE
Abenteuer.
* * *
Gerry war einer jener Individualisten, die es nicht schreckte, in den vierten Stock eines Altbaus mit Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg zu ziehen. Noch dazu lag die Wohnung im zweiten Hinterhof. Allerdings war der Anblick aus seinem Wohnzimmerfenster alles andere als düster. Weil sich wegen nicht behobener Kriegsschäden eine Baulücke neben dem Haus auftat, hatte er einen herrlichen Blick auf die Sophienkirche und ein wenig weiter auf den Fernsehturm.
Er hatte sogar rechtzeitig daran gedacht, sich für ein paar Quadratmeter Fliesen beim staatlichen Baustoffhandel anzumelden. Jetzt, ein paar Jahre später, konnte er die Früchte seiner Weitsichtigkeit ernten. Im Kollegenkreis hatte er schon viel über seine Pläne mit der Wohnung erzählt, als er uns eines Tages fröhlich seine fällige Anmeldung präsentierte. Dort stand geschrieben, dass er sich die vereinbarte Menge Wandfliesen an einem bestimmten Datum abholen könne. Keine Rede war hingegen davon, wie sie aussehen würden.
Für die Abholung dieses Schatzes bot ich Gerry meine Hilfe an.
Als wir im Baustoffzentrum eintrafen, mussten wir Schlange stehen. Aber das störte uns nicht weiter, da dies zu den üblichen Einkaufsgepflogenheiten zählte. Oftmals stellten sich die Leute einfach an einer Schlange an, ohne zu wissen, was es geben würde. Dass es etwas Seltenes war, konnte man sich denken, und so schadete es nicht, dabei zu sein. Wirklich ärgerlich war es nur, wenn man endlich an der Reihe war und die Bananen, der Ketchup oder die Orangen, die nicht aus Kuba stammten, ausverkauft waren. Auf diese Weise kauften wir gelegentlich Dinge, die wir eigentlich gar nicht brauchenkonnten (hier muss das Wort „Gelegenheitskauf“ geboren worden sein). Diese Sachen konnten aber wieder im florierenden Tauschhandel nützlich eingesetzt werden, beispielsweise: Lexikon gegen Wildlederhandschuhe oder Nordhäuser Doppelkorn gegen Rohrzange.
Gerry und ich rückten innerhalb einer Stunde bis zur Fliesenausgabe weiter. Jetzt konnten wir den Verkäufer schon erkennen, der vor sich eine Liste liegen hatte, auf der er die Namen derer abhakte, die ihre Anmeldung bereits eingelöst hatten. Weil wir es aber nicht abwarten konnten, fragten wir einen der Kunden, der mit seiner Zuteilung unter dem Arm an uns vorbeiging, ob wir mal einen Blick hineinwerfen könnten. Denn natürlich war nur eine einzige Sorte Fliesen geliefert worden. Bereitwillig öffnete er den Karton und zum Vorschein kamen matt sandfarbene Quadrate mit einem dunkelgrünen Blattornament. Gar nicht übel, bemerkten wir, und der Mann nickte zustimmend.
Der Mangel und die schleppende Versorgung entwickelten in besonderer Weise eine prosperierende Schattenwirtschaft um das Auto.
Bei Wartezeiten von zwölf Jahren zwischen Anmeldung und Auslieferung für einen Trabant und bis zu siebzehn Jahren für einen Lada konnte aus einem Teenager schon ein Familienvater geworden sein, der den fahrenden Untersatz umso dringender brauchte. Schließlich hatte jener dann wenigstens ausreichend Zeit, um sich den Kaufpreis, der für einen Trabant um die 10000 Mark betrug, zusammenzusparen.
Da jeder Bürger, der über achtzehn Jahre alt war, sich beim VEB IFA-Autohandel für einen Pkw anmelden durfte, existierten in den Familien oftmals mehrere Anmeldungen, die unterschiedlich genutzt wurden. So konnte man entweder den Neuwagen nehmen und den alten mit Gewinn verkaufen. Die Anmeldung konnte aber auch für sich verscherbelt werden,wenn sie alt genug war. Dann hatte man vor Zuteilung schon etwas Geld gemacht und musste nur noch mal mit dem Geschäftspartner los, wenn es an die Auslieferung ging. Man konnte natürlich auch seine neue Karosse abholen und sofort mit einigem Aufschlag weiterverkaufen. Der Mangel auf der einen und die Geduld auf der anderen Seite ließen also verschiedene Geschäftsmodelle zu.
Auf diese Weise wurden Autos zu einer Art Geldanlage, denn wie alt die Kiste auch war, sie konnte in den meisten Fällen mit Gewinn weiterverkauft werden.
Hatte man dann das ersehnte Gefährt, ereilte den Besitzer das nächste Dilemma, wenn eine Reparatur nötig wurde. Die wenigen Werkstätten hatten gemäß den Gesetzen der Planwirtschaft nicht ausreichend Ersatzteile auf Lager und es spiel-ten sich seltsame Szenen zwischen Monteur und Kunden ab.
So waren wir darauf abgerichtet, im Anmelderaum der Werkstatt so lange auszuharren, bis der Monteur, der für unseren Fahrzeugtyp zuständig war, geschäftig
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