STASIRATTE
heranzuschaffen?
Da die meisten Leute nichts umkommen lassen wollen, gibt es wohl so etwas wie einen Verbrauchszwang. Wobei es sich dabei meist um verderbliche Ware handelt, ist es in Gerrys Fall wohl eher so, dass er die wie auch immer beschafften Fahnen-Postkarten unbedingt an den Mann bzw. die Frau, aber auf jeden Fall erst mal zur Post bringen will.
Vielleicht gibt es ja mehrere Begünstigte, überlege ich. In seinem drastischen Brief sprach er immerhin von sechs Stasiratten. Unter Umständen stehe ich also nicht allein auf dem Verteiler für November, Dezember und die nächsten Monate.
* * *
Meinen Abschied von der schweren Arbeit im Bankettsaal mit seinen Großveranstaltungen bahnte mir indirekt der X. Parteitag der SED.
Wir Angestellten und das Hotel wurden ideologisch und technisch vorbereitet auf die politischen Ereignisse, bei denen es um nichts Geringeres ging als den Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und die Direktive zum Fünfjahresplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR in den Jahren von 1981 bis 1985.
2700 Delegierte bestätigten das Zentralkomitee und Erich Honecker einstimmig als Generalsekretär. Das Politbüro wurde von 19 auf 17 Mitglieder verkleinert und ein Wirtschaftsplan mit dem Ziel einer Wachstumsrate von 5 Prozent bis 1985 beschlossen.
Die meisten Menschen in meinem Umfeld erwarteten nichts von der mit großem Getöse eingeleiteten Politgroteske als die üblichen hohlen Phrasen und dieSelbstbeweihräucherung der Einheitspartei. Mit Fortschritten oder gar Veränderungen rechneten wir nicht.
Der Parteitag benötigte alle verfügbaren Kapazitäten der besseren Hotels der Stadt in Bezug auf Keller, Küche und Service. Im Vorfeld wurden gegen Auslobung einer Prämie „Systemhilfen“ für die Hauptstadt angefragt. So strömten eine Menge junger Hotelangestellter, meist Singles, aus der ganzen Republik nach Berlin, um zu helfen und vor allem, um etwas zu erleben. Wir erwarteten sie mit Spannung.
Ebenfalls angereist waren Delegationen der sozialistischen Bruderparteien der anderen sozialistischen Staaten, um ihre Grußadressen an die Delegierten des X. Parteitags zu überbringen. Und wir im Spreehotel hatten die Freude, die sowjetische Delegation der KPdSU zu beherbergen. Bis es so weit war und die Delegierten eintrafen, wurde alles auf Hochglanz gebracht.
Die Veranstaltung erforderte aber nicht nur einen erhöhten Putz-, sondern auch einen verschärften Sicherheitsaufwand. War es ohnehin klar, dass wir wegen unseres Gästekreises nicht ohne Dauerüberwachung auskamen, die weitestgehend unsichtbar blieb, machten sich die jungen Herren in den schlecht sitzenden Anzügen jetzt kaum mehr die Mühe, unauffällig herumzustehen. Sie waren in ihrer Lächerlichkeit Ziel von Spott und Häme hinter vorgehaltener Hand.
Der Parteitag begann und das Hotel veränderte sich in eine Art Ferienheim mit Vollpension. In allen Restaurants und im Saal wurden einheitliche Speisen serviert. Selbstverständlich waren die Teilnehmer des Parteitags Gäste der SED, was dazu führte, dass auf eine mehr oder weniger gesittete Einnahme des mehrgängigen Menüs eine unkontrollierte Sauferei folgte. Doch erfreulicherweise blieben unsere russischen Freunde dabei stets gemütlich und freundlich.
Mit Bedauern musste ich in jenen Tagen feststellen, dass es mir nach Absolvieren von sechs Jahren Russischunterricht ander polytechnischen Oberschule kaum möglich war, ein paar vernünftige Sätze mit unseren Gästen zu sprechen. Kein Wunder, denn im Unterricht war es neben ein paar Redewendungen über die eigene Person in erster Linie um das politische Leben der Komsomolzen in der Sowjetunion, die Rohstoffvorkommen in Sibirien und die Sehenswürdigkeiten Moskaus gegangen.
Nun kannten die Genossen ihre Sehenswürdigkeiten wahrscheinlich selbst und die Rohstofflage hatte sich unter Umständen seit meinem Schulabschluss ein wenig verändert. Blieb mir noch die Möglichkeit, ihnen meinen Namen, mein Alter und meine Anschrift herunterzubeten. Doch das, so nahm ich an, konnte zu falschen Schlüssen führen.
Lag dann endlich ein interkulturell beeindruckender Arbeitstag hinter uns, zogen wir los, um mit unseren Systemhilfen in den buchstäblichen Feierabend hinauszugehen und ihnen „unsere“ Stadt zu zeigen. Da die Auswahl an akzeptablen Diskotheken und Bars eher mäßig war, begegneten wir immer wieder bekannten Gesichtern, mit denen wir die Erlebnisse des Tages begossen
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