STASIRATTE
und belästerten. Da zwischen den Lokalitäten teilweise weite Strecken lagen, musste etwas zum Fahren gefunden werden. In Ermangelung offizieller Wagen hatte sich zu diesem Zweck ein stabiler Markt der sogenannten „Schwarztaxis“ gebildet.
Wer einen Pkw und abends Zeit hatte, konnte sich ordentlich etwas dazuverdienen, indem er zu nächtlicher Stunde einschlägige Gegenden anfuhr. Der potenzielle Kunde stellte sich einfach an den Straßenrand und hielt die Hand hoch. Meist dauerte es keine fünf Minuten, bis eines der wenigen sich überhaupt noch auf den Straßen befindlichen Autos anhielt, sich die Beifahrertür öffnete und eine Stimme fragte: „Wohin?“ Man nannte das Fahrtziel, der Fahrer nickte und es ging los. Die Frage des Fahrgastes: „Wat krichste denn?“, wurde seltenkonkret beantwortet, der Fahrer zuckte nur mit den Schultern. Deshalb hatte sich das Ritual entwickelt, vom Rücksitz aus das Fahrgeld zum selbst gewählten Tarif auf den Beifahrersitz zu werfen. Der Fahrer maß dann mit einem kurzen Blick seinen Lohn, nickte zustimmend oder meinte: „Na, tanken muss ick ooch ma.“ Auf diesen unmissverständlichen Hinweis folgte eine weitere Wurfsendung auf den Beifahrersitz.
Der Parteitag mit seinen vielen Gästen bescherte den Fahrern Hochkonjunktur. Und auch Gerry und ich nahmen schon mal den einen oder anderen am Straßenrand Winkenden für ein paar Mark mit, wenn die Strecke mit unserem Heimweg zu vereinbaren war. Während Gerry weniger wählerisch war, achtete ich darauf, nur Frauen oder Pärchen einstiegen zu lassen.
Als der Parteitag Bergfest hatte, fand ich es an der Zeit für ein Abenteuer. Von den vielen auswärtigen Kollegen, die bald wieder verschwunden sein würden, hatte ich einen in Frage Kommenden bereits identifiziert, wartete aber vergebens darauf, dass ich ihm auffiel. So lief ich ihm mehr oder weniger geschickt mehrmals über den Weg und glaubte schon, er hätte Mitleid, als er mich endlich ansprach. An diesem Abend gingen wir gemeinsam aus und wussten nach einer kräftezehrenden Nacht, dass wir uns wiedersehen wollten.
Also saß ich schon wenige Wochen und viele umständliche Telefonate später in der Deutschen Reichsbahn, die mich in den Thüringer Wald brachte. Dort holte mich mein Freund mit seinem Moped vom Bahnhof ab. Nachdem ich mich etwas skeptisch auf dem Gefährt eingerichtet hatte, rollten wir aber sehr entspannt durch die schöne Landschaft. Vorbei an Fachwerkbauten in bedenklichem Zustand und über grüne Hügel mit herrlicher Aussicht auf eine Stadt zu, die in ihrer Mitte durch Plattenbauten verunziert war und irgendwie darauf zu warten schien, dass ihr jemand die hässlichen Splitter wieder auszog.
Es wurden schöne Tage und lange Nächte und unsere Pläne wurden konkreter. Da die Hotels, in denen wir arbeiteten, zu einem Großbetrieb gehörten und ein Wechsel von Haus zu Haus recht unkompliziert war, kam ich auf die Idee, für eine Weile in den Bergen zu arbeiten.
Die Sache kam unerwartet schnell in Bewegung. Es gab Bedarf im Thüringer Hotel und meine Bewerbung wurde zügig bearbeitet. Ganz üblich war dabei eine Kontaktaufnahme der jeweiligen Abteilungsleiter, um sich über den Wechsel abzustimmen. Aus meiner Sicht der Dinge sollte es dabei keine Probleme geben. So ging ich fröhlich zur Gastronomischen Direktorin des Spreehotels, die mich zum Gespräch gebeten hatte.
„Frau Döhring“, begann sie. Es war üblich, auch unverheiratete Frauen mit „Frau“ anzureden. Das „Fräulein“ gab es nicht mehr. Wir waren Frauen ab Volljährigkeit und so entschieden und emanzipiert wurden wir auch behandelt. „Frau Döhring, Sie können sich denken, warum ich Sie hergebeten habe“? Sicher konnte ich das. Doch ich mochte diesen zutiefst misstrauischen Fragestil nicht. Menschen, die so fragten, hofften doch immer auf zusätzliche Auskünfte. Also sah ich sie nur an und zuckte nichtssagend mit den Schultern.
„Sie wollen uns also verlassen“, stellte sie sodann ohne Umschweife fest. Ihre Stimme war wie immer distanziert und kühl, ganz Geschäftsfrau. Musste sie sich wohl im Westfernsehen abgeguckt haben. Sie war nicht groß, sehr schlank und wirkte zäh. Ich schätzte sie damals auf Ende dreißig. Ihr dunkles Haar war halblang und nach innen geföhnt. Meist trug sie ein klassisches dunkles Kostüm mit weißer Bluse. Aufgrund ihres elitären Gehabes kam sie im sozialistischen Kollektiv nicht besonders an. Schließlich hatte man uns von klein auf
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