STASIRATTE
freier Zeiteinteilung nachzugehen. Dieser Kunstgriff zum beiderseitigen Vorteil war unbedingt nötig, da in der sozialistischen Gesellschaft selbstverständlich alle Menschen Arbeit hatten und auch haben mussten, da sie sonst als asoziale Elemente verfolgt wurden. Das Aushängeschild der Vollbeschäftigung brachte es dann andererseits mit sich, dass eineOberschule drei Heizer beschäftigte, die im Sommer während der Arbeitszeit Skatturniere veranstalteten.
Paul verdiente sein Geld durch den Mangel in unserer Planwirtschaft. Sein Naturell, völlig unbefangen wildfremde Menschen anzusprechen, half ihm dabei, eine Menge gewinnbringender Kontakte zu knüpfen. Paul war aufgeschlossen und leutselig, man vertraute ihm. Er fühlte sich niemandem gegenüber der Rechenschaft schuldig und musste sich keinem Kollektiv unterordnen.
Mich beeindruckten dieser Lebensstil, seine Möglichkeiten und sein Auftreten. Ich hörte ihm aufmerksam zu, wenn er aus seinem Leben und von seinen Erlebnissen erzählte. Dabei saß ich dann zumeist auf dem Beifahrersitz seiner wechselnden Autos und leistete ihm Gesellschaft, wenn er sich auf den Weg zu mehr oder weniger vertrauenerweckenden Geschäftsfreunden machte.
Für mich hatte er die Rolle der ihn bewundernden Begleitperson vorgesehen. So lernte ich als Erstes, dass ich bei derartigen Zusammenkünften den Mund zu halten hatte. Es gefiel ihm, wenn seine Gesprächspartner ihn wegen meiner Jugend und meines Äußeren beneideten. Und ich war richtiggehend stolz darauf, als ich es bemerkte. Sogar wenn ich oft stundenlang nur im Auto warten durfte, redete ich mir ein, dass ich mich allein schon wegen des Mitgenommenwerdens glücklich schätzen konnte. Es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, ihm deswegen Vorhaltungen zu machen.
Einen Höhepunkt bedeutete es für mich, wenn ich ihn in eine der wenigen uns westlich anmutenden und deshalb angesagten Diskotheken begleiten durfte. Der Türsteher kannte Paul natürlich und ich fühlte mich königlich, als wir an der Warteschlange vorbeirauschten. Diese Bar hatte zwar einen zweifelhaften Ruf als von der Stasi verseucht, aber was kümmerte mich das. Der Besitzer hatte die Einrichtung aus demWesten beschafft, die gläserne Tanzfläche war verschiedenfarbig beleuchtet, die Sitzecken aus Leder und die dezente Beleuchtung spendenden Lampen waren gläserne Mädchenfiguren, die eine Kugel in der Hand hielten. Der einzige Nachteil war, dass Paul nirgendwo zu seinem Vergnügen hinging. Er kam auch hierher eigentlich nur, um Leute zu treffen, mit denen er das nächste Geschäft machen konnte. Er setzte mich auf einem Barhocker ab, bestellte mir einen Cocktail und ward erst mal nicht mehr gesehen. Sollte ich aber auf die Idee kommen, mit anderen zu tanzen, konnte es ein ganz schwieriger Abend werden. Das hatte ich inzwischen auch schon begriffen. Also hörte ich der Musik zu, sah mir die Leute an, trank und wartete. Naiv und sehr schick.
* * *
Gerry und ich arbeiteten nun schon einige Zeit zusammen und immer mehr hatte ich das Bedürfnis, auch außerhalb der Arbeit etwas mit ihm zu unternehmen. Meine Gefühle waren rein freundschaftlich und bezogen auch Gerrys Freundin Sonja ein, die ich inzwischen ein paar Mal kurz gesehen hatte. Sie hatte die gleiche Frische wie er und dazu Charme und eine warmherzige Ausstrahlung.
In meiner Fantasie sah ich uns sogar schon zu viert unterwegs, ausgehen, Spaß haben: Gerry und Sonja, Paul und mich. Unkompliziert und fröhlich sollte es sein. Also legte ich los und traf mit Gerry eine Verabredung für uns alle. Zuerst ins Restaurant und danach weiterziehen, wir würden vor Ort entscheiden, wo wir vielleicht noch tanzen gehen könnten. Ich war ausgelassen und voller Vorfreude.
Nur Paul war nicht begeistert. Sogar das Gegenteil war der Fall. „Was willste denn mit denen?“, war seine Frage. Ich verstand ihn nicht.
„Ja, was schon, ein bisschen unterhalten und so ...“
„Worüber denn?“ Verunsichert durch diese unerwartete Reaktion, stammelte ich herum. „Die beiden sind sehr nett. Du musst sie einfach mal näher kennenlernen.“
„Wozu?“, fragte Paul. Vollständig perplex antwortete ich: „Wir könnten doch mit ihnen befreundet sein, wir haben doch noch gar keine gemeinsamen Freunde.“
„Ich brauche auch keine weiteren Freunde.“ Und als ich ihn entgeistert anstarrte, setzte er nach: „Ich brauche sowieso niemanden.“ Basta. Das war sein Ernst, ja, ganz sicher. Ich schwieg und schluckte. Das muss ich
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