STASIRATTE
herumzukommen. Meine Lage bedrückt mich mehr und mehr und manchmal wünsche ich beinahe, Mike würde endlich einmal eine Karte in die Hand fallen.
Doch das ist eben das Dilemma. Was wird passieren? Wie würde er mich sehen? Er weiß natürlich, wo meine Vergangenheit stattgefunden hat und dass ich keine Kommunistin gewesen war. Er ist interessiert daran, wie unser Leben hinter der Mauer war, und vieles habe ich erzählt von der Enge, von den Zwängen, von unfreiwillig komischen Ereignissen, von unserer Lebensfreude – trotz allem.
Aber gerade deshalb ist eine Enthüllung umso schwieriger. Werde ich in seinen Augen eine verachtenswerte Opportunistin sein oder wird es genügen, meine Verfehlung mit dem Leben in der Diktatur zu erklären?
Immer wenn wieder ein IM enttarnt wird und die Medien darüber berichten, erstarre ich. Jedes Mal frage ich mich, ob das nicht ein Zeichen für mich ist, ebenfalls mit der Wahrheit herauszurücken. Und jedes Mal schweige ich.
Mike kommentiert Meldungen dieser Art ziemlich deutlich mit Worten wie: „Was auch immer diese Leute damals bewogen hat, sich mit dem System gemein zu machen, kann ich nicht beurteilen. Aber dass sie jetzt ein öffentliches Amt bekleiden, geht natürlich nicht. Die müssen schon die Verantwortung für ihre Vergangenheit übernehmen.“
Es gibt nichts, was ich darauf zu erwidern hätte.
Der Druck wird stärker und ich fühle, dass ich ihm nicht mehr lange standhalten werde. Wieder und wieder überlege ich, was genau mich bewogen hat, eine Verpflichtungserklärung bei der Staatssicherheit zu unterschreiben und regelmäßig über meine Mitmenschen zu berichten. Wird Mike verstehen, was ich mir selbst nur mühsam erklären kann?
Denn es gab eben nicht den einen Grund für diese folgenschwere Entscheidung, sondern ein Quantum Erfahrungen, Erlebnisse und Erwartungen.
* * *
Nicht unbedeutend war sein Beitrag:
Paul fiel mir schon wegen seiner blonden Locken auf, die er bis leicht über die Schultern trug. Er war ein drahtiger Typ, der ständig in Bewegung sein musste. Wenn er in der Kristallbar erschien, ließ er sich meist nur für ein paar Minuten oder eine Zigarettenlänge in einen Sessel am Tresen fallen, unterhielt sich kurz mit einigen anderen Gästen, die ihrerseits täglich mehrere Stunden hier saßen, um ihre Geschäfte abzuwickeln, und verschwand wieder. Er gefiel mir. Seine vermeintliche Unabhängigkeit und das lässige Auftreten faszinierten mich. Mich schien er allerdings nicht zu bemerken.
Er stand in irgendeinem Zusammenhang mit einer Gruppe ganz besonderer Stammgäste. Sie kamen meist schon am Vormittag, wenn der normale Werktätige an seinem Arbeitsplatz war, bestellten Kaffee oder Cola, standen manchmal gleich wieder auf, um dann für eine Weile zu verschwinden, tauchten wieder auf und gingen wieder, rannten hinab ins Parkhaus und Minuten später wieder herauf. Ich fragte mich, warum sie sich so sonderbar verhielten und was der Grund für die Unrast war.
Ein Kollege, der über diese Leute nicht erfreut war, klärte mich auf: „Weißt du“, sagte er, „die gehen keiner geregelten Arbeit nach, sonst könnten sie ja nicht um diese Uhrzeit schon hier sitzen und uns auf die Nerven gehen. Die machen irgendwelche Geschäfte, rennen mit ihren Kunden rein und raus, um zu verhandeln, bestellen alle Stunde mal ein Getränk und rauchen den Aschenbecher voll.“
Nach und nach kam ich dahinter, dass hier der Handel mit knappen Gütern im Allgemeinen das Geschäftsmodell war. Und davon hatten wir ja reichlich. Wieder entdeckte ich Neues und Faszinierendes in meinem jungen Leben. Das war es also, was mein Vater mit dem Spruch „Und ist der Handel noch so klein, bringt er mehr als Arbeit ein“ gemeint hatte.Man musste offenbar nur schlau und frech genug sein, um aus Angebot und Nachfrage im Halblegalen ein einträgliches Geschäft zu machen.
Über den imaginären Ladentisch ging alles, was gebraucht wurde und schwer zu bekommen war: Winterreifen, Werkzeug, Schmuck, Autos und Westgeld, mit dem die Waren entweder zur Hälfte oder zu einem Kurs von eins zu zehn bezahlt wurden. Vermittelt wurde auf Provisionsbasis und alle hatten etwas von einem gelungenen Geschäft.
Bald kannte ich mich in der Hierarchie unserer Geschäftemacher aus. Da war Zoran, ein gut aussehender Jugoslawe um die dreißig, der den Chef machte. Aufgrund seiner Nationalität konnte er sich frei zwischen Ost- und Westberlin bewegen, was ihm gewerblich einen enormen Vorteil
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