STASIRATTE
stand er unvermittelt auf und schien es eilig zu haben. „Also dann“, er gab mir die Hand, „immer Augen auf, haha.“
Er freute sich über seinen Spruch, nickte Micha kurz zu und verschwand.
Im Nachhinein wunderte ich mich über den Aufwand, der hier getrieben wurde. Diese Geschichte hätte ich genauso gut auch Micha erzählen können. Aber vielleicht mussten sich die Genossen auch irgendwie über den Arbeitstag bringen.
Genauso wunderte ich mich darüber, dass sie nicht nach der kurz zuvor gelegten Telefonleitung zu Pauls entlegenem Grundstück gefragt hatten, die sogar das Aufstellen neuer Masten erforderlich gemacht hatte. Jedenfalls fragte der Gerd nichts in der Richtung. In diesem Punkt hätte ich ihm noch nicht mal Auskunft geben können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich hatte keine Ahnung, wie Paul das hinbekommen hatte.
Als ich zu Hause vom Gerd und meiner Berichterstattung erzählte, nahm Paul es gelassen. „Na ist doch gut, dass wir vorbereitet waren“, sagte er zufrieden, da wir ohnehin früher oder später damit gerechnet hatten, dass sich die Stasi aus zwei Gründen mit Pauls Fleischhandel beschäftigen würde.
Der erste Grund war, dass Kontakte zu Ausländern jenseits der Warschauer-Pakt-Staaten kritisch beäugt wurden, denn unser Staat hatte begründete Angst: Wir sollten nicht erfahren,dass es vielen kapitalistischen Ländern wirtschaftlich besser ging als uns und es sich keineswegs um das so oft bemühte „verrottende“ System handelte. Wir sollten nicht die Meinung des Auslands über die Mauer und unsere Politiker hören. Wir sollten uns möglichst keine Gedanken über Demokratie und Meinungsfreiheit machen. Wir sollten Ausländern weder unsere Frustration noch Kritik am Sozialismus mit auf den Weg geben. Und schon gar nicht sollten wir auf die Idee kommen, unser Land zu verlassen, um uns in der Welt umzusehen und uns ein eigenes Bild zu machen.
Der zweite Grund war das Marktmonopol des Staates. Nur in sehr kleinem Maßstab wurde selbstständiger Handel geduldet und die Waren den Händlern gemäß dem Fünf-Jahres-Plan zugeteilt, sodass Engpässe vorprogrammiert waren. Neben der ständigen Jagd nach Gütern musste der selbstständige Gewerbetreibende dann noch so hohe Steuern zahlen, dass sich das Geschäft kaum lohnte. Paul allerdings betrieb kein offiziell angemeldetes Gewerbe und machte sich dadurch erneut angreifbar.
Doch gerade hier lag auch die Chance, ein wenig in Ruhe gelassen zu werden. Die Regierenden waren sich bewusst, dass die Mangelwirtschaft Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervorrief und die Schattenwirtschaft durch Leute wie Paul einige Lücken stopfen konnte. Wichtig war hier vor allem, dass der Händler nicht zu reich wurde und das auch noch zur Schau stellte. In einem Staat, in dem alle gleich waren bzw. sein sollten und es keinen echten Wettbewerb gab, sollte sich keiner herausheben.
Paul hatte das Glück, dass die Obrigkeit gerade bei den im Lande lebenden Diplomaten keinen armseligen Eindruck erwecken wollte, und so ließ man ihm seine Fleischlieferungen vorerst durchgehen. Wir hatten keine Ahnung, wie lange das noch gut gehen würde.
Vom Gerd hatte ich nie wieder etwas gehört oder gesehen.
* * *
Die passende Karte für Gerry fällt mir nach einem Museumsbesuch in die Hände. Marie-Denise Villers „Zeichnende junge Frau“ sitzt im langen weißen Kleid in einem Sessel und sieht dem Betrachter in die Augen. In den Händen hält sie Zeichenpapier und einen Stift. Licht fällt durch ein zerbrochenes Fenster. In der Ferne steht ein Paar auf einer Brücke und unterhält sich. Der Blick der jungen Frau ist ernst und offen. Sie sieht ganz in den Betrachter hinein, als möchte sie ihn nachdenklich machen.
„Meinem Stalker einen schönen Gruß“, schreibe ich in Gerrys Stil. Skeptisch, aber mit unbestimmter Hoffnung werfe ich die Karte in den Briefkasten.
Dann warte ich auf eine Reaktion. Doch das Einzige, das ich von ihm bekomme, ist die gewohnte Karte mit dem Monatsgruß. Stur und unbewegt scheinen Schreiber und Karte. Fahne, Gruß mit Monatsangabe, Briefmarke aus dem Automaten – alles wie immer.
Was habe ich auch erwartet? Dass er sich von einer einsamen Karte gleich aus der gewohnten Bahn werfen lässt? Ich male mir aus, dass Gerry nach anfänglichem Ärgern über meinen Gruß beschlossen hat, weiterhin den Unbeeindruckten zu geben. Sollte ich ihn vielleicht nachahmen und nun auch monatlich grüßen? Ich habe nicht die Energie dazu.
Gerry
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