STASIRATTE
fortfuhr: „Wir machen uns Sorgen, denn es werden leider sehr viele Anträge gestellt.“
Anträge! Wir machen uns Sorgen! Ich verzog keine Miene. Hauptmann Gerber meinte Ausreiseanträge. Auch ich kannte einige Leute, die einen „Antrag zur ständigen Ausreise aus der DDR“ gestellt hatten. Das hieß dann auf Nimmerwiedersehen, diese Ausreise sollte endgültig sein. Dieser Schritt war sehr mutig und die Leute meist sehr verzweifelt, die einen solchen Antrag stellten. Denn danach veränderte sich ihr Leben und das ihrer Familie gründlich.
Nach Abgabe des formlosen Antrags bei den Behörden begann ein Spießrutenlauf auf unabsehbare Zeit. Die willkürliche Bearbeitungszeit konnte Jahre dauern, in denen der Antragsteller systematisch zermürbt wurde, um ihn doch noch zur Rücknahme zu bewegen. Wenn er attraktiv war, verloren die Betroffenen zuerst ihren Arbeitsplatz und wurden für weniger qualifizierte Tätigkeiten eingesetzt. Ihren Kindern war, auch wenn schon geplant, der Zugang zu höherer Bildung verwehrt und von linientreuen Lehrern wurden sie bewusst eingeschüchtert.
Daneben stand die soziale Schikane. Fast immer wurden den Ausreisewilligen die Personalausweise abgenommen unddurch sogenannte PM-12 ersetzt. Diese Karten waren für entlassene politische Häftlinge oder für Menschen vorgesehen, die politisch untragbar waren. Wurde man bei einer der durchaus gängigen und häufigen Polizeikontrollen mit dem PM-12 erwischt, war auch eine einstweilige Inhaftierung nicht ausgeschlossen.
In den letzten Jahren der DDR ließen Ausreiseantragsteller ihre Haltung durch das Tragen eines weißen Bändchens an der Autoantenne erkennen. Dadurch wurde allerdings der Straftatbestand der „unerlaubten Standartenführung“ erfüllt.
Eine weitere Gemeinheit war, dass der Ausreiseantrag ganz plötzlich genehmigt wurde und der Betreffende gerade mal vierundzwanzig Stunden Zeit hatte, um auszureisen. Damit wollte man ihm die Gelegenheit nehmen, seinen Besitz angemessen zu verkaufen. Nicht selten wurden auf diese Weise verlassene Häuser oder Grundstücke dann an Stasimitarbeiter vergeben.
Die Flut der Antragsteller wurde in den Achtzigerjahren zu einem immer größeren Problem für das Regime.
„Es wäre also schön“, platzte Micha in meine Gedanken, „wenn du mal genauer hinhörst, was die Leute in diesem Zusammenhang so sagen. Wie die öffentliche Meinung zu den Anträgen ist. Und zur Versorgungslage im Allgemeinen.“
Himmel, dachte ich. Was glaubt der denn? Ich erzähle ihm beim nächsten Mal, dass ein paar Biertrinker es nicht so gut finden, dass es keine Autoreifen gibt, dann nimmt Micha meinen Bericht und rettet den Staat? Oder ich lerne durch Zufall am Tresen eine Person mit Ausreiseantrag kennen und der stelle ich dann ein paar Fragen zur Lage der Nation? Ich musste aufpassen, dass ich nicht zynisch lachte. Doch Micha war es ernst damit. Und bei näherem Nachdenken leuchtete mir das auch ein. Er war kein Heuchler; in diesem Raum besetzte ich diese Position. Er glaubte wohl tatsächlich noch an Großtaten,die er mit seinen Genossen vollbringen konnte. Zumindest wollte er seine Arbeit gut machen und brauchbare Ergebnisse liefern. Wozu diese zu gebrauchen sein würden, war dahingestellt.
* * *
Mike kommt nach Hause und wühlt in seiner Aktentasche. Er zieht ein paar bedruckte Seiten heraus und wirft sie mit Schwung auf den Küchentisch. Ich lehne am Schrank und sehe ihn fragend an.
„Ein neuer Gesetzentwurf ...“ Er macht eine Pause. „Vielleicht ist das etwas für unseren Fall Gerry“, ergänzt er.
Ich nehme das Papier in die Hand und lese: „Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen“. Das klingt vielversprechend, denke ich sofort.
„Es ist eine Ergänzung zu einem bestehenden Gesetz, das die sogenannte Stalkingproblematik behandelt“, klärt Mike mich auf.
„Und, können wir das gebrauchen?“ In mir regt sich Optimismus, dass es etwas gäbe, was Gerry endlich stoppen würde.
„Wir werden es probieren, schick ihm das Papier einfach mal zu, vielleicht beeindruckt es ihn.“
Mir ist im Moment jede Idee recht und ich lese den Text aufmerksam. Es ist die Rede von beharrlichen Nachstellungen, wie unter anderem schriftliche Mitteilungen, durch die der Täter darauf abzielt, Kontakt zu seinem Opfer herzustellen und auf dessen Lebensgestaltung Einfluss zu nehmen. Weiterhin heißt es, dass die Motivation vielfältig ist. Sie kann zum Beispiel ein Rachefeldzug für
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