STASIRATTE
tatsächliche oder vermeintliche Ehr- und sonstige Rechtsverletzungen sein.
Interessant finde ich auch, dass das Wort „beharrlich“ näher erläutert wird. So zählt eine einfache Wiederholung einer unerwünschten Handlung noch nicht, wohl aber einebeharrliche Missachtung des Willens des Opfers dadurch, dass der Täter erkennen lässt, dass er auch in Zukunft immer wieder entsprechend handeln wird.
Weiter heißt es, dass das Opfer, das sich in die Enge getrieben, gejagt oder bedroht fühlt, wegen eben dieser Nachstellung nicht mehr so leben kann wie vorher. Es sieht sich gezwungen, durch Veränderung der Lebensgestaltung zu reagieren. Hier steht aber auch, dass es sich um schwerwiegende, unzumutbare Beeinträchtigungen der Lebensgestaltung handeln muss.
Werde ich in die Enge getrieben, gejagt oder bedroht? Ich überlege. Es ist schon so, dass ich mein Leben nun auf das Kartenbekommen und –verbergen einrichten muss. Ich werde vielleicht nicht gejagt, aber genervt und gehetzt. Ich frage Mike nach seiner Meinung.
„Wenn du schon so genau über den Text nachdenkst, tut es Gerry vielleicht auch und zieht ein paar richtige Schlussfolgerungen“, sagt er. „Du kannst dir ja überlegen, ob du ihm das schickst“, überlässt er mir das Weitere.
Ich versende den Gesetzentwurf am nächsten Tag kommentarlos an Gerry.
* * *
Wenn ich Michas Auftrag richtig verstanden hatte, ging es also darum zu hören, was die Leute in den Kneipen von ihrer täglichen Realität hielten und wie viel sie davon preisgaben.
Als ich Paul von meinem Auftrag erzählte, musste er erst mal herzlich lachen. „Jetzt kannst du mal sehen, wie wichtig du bist“, machte er sich über mich lustig. Er hatte vollkommen recht. Vielleicht sollte ich anfangen, das Ganze mit Humor zu nehmen. Denn Micha kannte unseren Alltag so gut wie ich und konnte wohl nicht im Ernst annehmen, dass es Spektakuläres zu hören gäbe. Vielmehr würde es immer wieder um diedrei Themen gehen, die uns DDR-Bürger täglich umtrieben: Versorgung, Versorgung, Versorgung.
Und was wollte er damit anfangen, fragte ich mich. Vielleicht gab es ein übergeordnetes Projekt beim Ministerium für Staatssicherheit, das die Informationen über die verschiedenen Unzufriedenheiten zusammentrug und ordentlich verwaltete. Denn was sonst wollten sie anschließend damit anfangen, waren sie doch als Letzte daran beteiligt, die Konsumgüterindustrie voranzubringen.
Draußen dämmerte es, als ich aus dem Wohnzimmer meiner Hinterhofwohnung sah. Gleich würde ich also rüber in die Kneipe gehen und den Werktätigen gut zuhören. Da fiel mein Blick auf die erleuchteten Fenster der gegenüberliegenden Wohnung. Es wohnte eine Familie mit zwei fast erwachsenen Kindern dort. Über den Familienvater munkelten die Nachbarn, er wäre IM bei der Stasi. Doch ich wollte von diesen Dingen nichts wissen, viel zu beklemmend war das Gefühl, als hielte mir jemand einen Spiegel vor.
Ich überlegte, wie viele es von uns wohl gab. Waren wir die Stützen des Staates? Half ich gerade mit, die DDR zu stärken, ja vielleicht, sie am Leben zu erhalten? Ich bekam eine Gänsehaut. Und das tat ich, eine Tochter von Eltern, die nichts mehr hassten als das Regime dieses Staates. Ich versuchte, das Schamgefühl gleich wieder abzuschütteln. Wenn nicht ich, dann suchten die sich andere, schlussfolgerte ich zu meinen Gunsten. Was konnte ich schon ändern? Bestimmt gab es in jedem Mietshaus einen IM. Und wie sah es in den Betrieben aus? Hockte in jedem sozialistischen Kollektiv ein IM? Ich hielt es für gut möglich.
Unvorstellbar, welche Massen an Papier mit den Spitzelberichten allein aus Berlin wohl täglich in den Dienststellen eingingen und wie viele offizielle Stasimitarbeiter damit beschäftigt waren, die Blätter auszuwerten, hin und her zuschicken, zuzuordnen und abzulegen. Ohne Computertechnik musste es umständlich gewesen sein, die Übersicht zu behalten. Also bedurfte es auch für das Anlegen von Strukturen, Wiederauffinden von Dokumenten, Archivieren etc., etc. einer Vielzahl von Mitarbeitern. Und von diesen Scharen wurde nichts produziert oder erdacht und entwickelt, was das Land weitergebracht hätte.
Ganz zwangsläufig kamen mir all die Zumutungen in den Sinn, die wir täglich hinnahmen, da sie wie selbstverständlich zu unserem Leben gehörten.
Das Bild, welches das Ausland von der DDR haben sollte, versuchte die Partei- und Staatsführung in unserer Hauptstadt Berlin zu prägen. Hier wurde im
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