STASIRATTE
jedenfalls scheint es noch lange nicht satt zu haben und zeigt mir unmissverständlich, dass ich ihm in Sachen Karten absolut nicht das Wasser reichen kann.
* * *
„Wie schafft es der Paul denn bloß, das ganze Baumaterial zusammenzubekommen? Da muss er ja eine Menge Kontaktehaben.“ Micha beantwortete sich seine Frage heute entgegen seiner sonstigen Gepflogenheit gleich selbst. Durch diesen Kunstgriff war er bei der wesentlicheren Frage angekommen: Was für Leute?
Ich saß ihm gegenüber in der gewohnten Platzierung in der Wohnung im Prenzlauer Berg und war ganz entspannt. Alles lief. Micha bestellte mich in Abständen von acht bis zehn Wochen zum Treff und fragte mich über Mitarbeiter und Gäste des Hotels aus, die ich meist nur flüchtig kannte. Genauso oberflächlich verfasste ich die Berichte. Es hatte sich Routine eingestellt. Daneben gerieten wir immer öfter ins private Plaudern.
Heute hatten wir uns für kalte Getränke entschieden und Micha hantierte mit einer Flasche Orangensaft, die sich schwer öffnen ließ. Da ich ihm nicht dabei helfen konnte, sah ich mir gelangweilt das Regal über dem Tischchen an. Es waren neue Staubfänger hinzugekommen. Eine Weinkanne aus grüner Keramik und sechs dazugehörige Becher mit einem Muster, das an die bulgarischen Souvenirs meiner Eltern erinnerte. Da vernahm ich Michas Stimme erneut: „Hörst du mir überhaupt zu?“
Verdutzt schaute ich auf und murmelte eine Entschuldigung. „Baumaterial? Ja, er kennt eine Menge Leute. Paul hat ja auch diese besondere Begabung, ohne Hemmungen auf Fremde zuzugehen, wenn er glaubt, die könnten ihm hilfreich sein.“
Als ich den Satz ausgesprochen hatte, realisierte ich erschrocken, dass ich wieder einmal völlig ausgeblendet hatte, wer hier vor mir saß. Die immer wiederkehrende Situation gaukelte mir allmählich Normalität vor und ich war erstaunt, wie unmerklich, aber zuverlässig dieser Prozess vorankam. Ich rede halt ein bisschen mit einem Bekannten. War doch nichts Ungewöhnliches, oder? Eine Anfang zwanzigjährige Frau mit einem Mitte dreißigjährigen Mann zusammen imZimmer einer Wohnung, in der keiner von beiden zu Hause ist, völlig normal, oder?
„Was ist?“, fragte Micha. Ich versuchte, mich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. Er sah mich treuherzig an und fragte tatsächlich: „Hast du etwas auf dem Herzen?“
Ach du Schreck, nein, dachte ich. Jetzt ist ja gut, reiß dich zusammen, Jana, und pass auf, was du sagst! „Ist wohl die Hitze ... heute ... oder so“, stotterte ich.
Micha nickte und stimmte mir zu. Die nächsten Sätze über Temperaturen und Luftfeuchtigkeit brachten mich wieder in Normalform.
„Ich habe seit Kurzem einen Bungalow in Schönheide“, sagte Micha und strahlte. Oh nein, durchfuhr es mich, ich soll dir doch jetzt kein Material vermitteln, oder? „Es ist echt schwer, an manche Dinge heranzukommen. Das ist wirklich nicht gut.“ Er hatte recht und ich erwiderte: „Da braucht man sich über die Unzufriedenheit der Leute wirklich nicht zu wundern.“ Er nickte und murmelte so etwas wie: „Das müssen wir bald in den Griff kriegen.“ Glaubte er wirklich daran? Ich hatte beinahe den Eindruck. Doch in diesem Land hatte es noch nie all das gegeben, was die Bevölkerung gern gehabt hätte. Natürlich war das auch ihm und seinen Genossen bewusst und auch die-se Leute störten die ewigen Engpässe. Denn wenn es keinen Zement oder keine Balken zum Bauen gab, dann gab es das auch nicht für Stasimitarbeiter, glaubte ich jedenfalls.
Nun waren wir beide in Gedanken und es entstand eine Redepause. Während ich mich noch fragte, worauf das jetzt hinausläuft, und inständig hoffte, er würde nicht zu vertraulich nach Hohlblocksteinen oder Eisenträgern fragen, ging es nun in eine andere Richtung: „Dein Freund spricht die Leute einfach so an?“
„Das ist eben sein Naturell, es ist ihm nicht peinlich, wenn’s nützlich sein kann.“
„Auf der Straße?“
„Nein, das gerade nicht, aber in der Kneipe zum Beispiel.“
Micha sah mich aufmerksam an.
„Gehst du da mit?“
„Ja, manchmal auf ein, zwei Bier. Es ist ganz interessant, zuzuschauen ...“, schwadronierte ich weiter. Jetzt zog ein breites Grinsen über sein Gesicht. „Wenn das so ist, hätte ich da einen Auftrag.“
Na toll, ich war gespannt.
„Es ist für uns auch immer interessant, was die Werktätigen so über ihren Alltag sagen.“ Ach ja, klingt schön harmlos, dachte ich und hörte zu, als er nun ernst
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