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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Döhring
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nach mir gegriffen hatte? Hatte ich einfach nur den passenden Charakter und mich sogar indirekt angeboten?
    Heute, Jahre später, muss ich für mein damaliges Handeln einstehen. Das „Wie konnte ich nur“ hatte ich mir so oft zu erklären versucht. Und viele Antworten und auch keine gefunden. Verbrechen verjähren dem Gesetz nach, doch eine persönliche Schuld bleibt ein Leben lang bestehen. Mit meiner Schuld lerne ich jetzt umzugehen. Das ist der Gewinn, den Gerrys Karten bringen.
    Das Gefühl der neuen Ehrlichkeit wirkt befreiend. Endlich kann auch ich mich dem Thema Stasi nähern, wenn es die Nation mal wieder beschäftigt, und muss nicht mehr ängstlich ausweichen. Dafür hat Gerry gesorgt. Allerdings bin ich auch der Meinung, dass ich meine Strafe jetzt „abgelesen“ habe. Für den Fall, dass Gerry mich zum lebenslänglichen Kartenbekommen verurteilt hat, ist es jetzt an der Zeit, ihn aktiv zur Wiederaufnahme meines Verfahrens anzuregen.
    Deshalb ist es nun an mir, eine passende Karte auszuwählen.
    * * *
    Langsam gewöhnte ich mich an meine Treffen mit Micha. Ich wurde angerufen, empfand es im ersten Moment zwar als unnötige Belästigung, motzte ein bisschen vor mich hin und fand mich letztendlich doch damit ab. Dann trottete ich zur vereinbarten Zeit zum bekannten Ort, setzte mich an den kleinen Tisch im kleinen Zimmer und erwartete die Frage nach dem WER. Wer war es diesmal, der in den Blickwinkel derStasi geraten war? Mit meinen nächsten Kollegen waren wir fertig, über sie hatte ich ausführlich berichtet. Was gut war und was ich nicht leiden konnte. Wenn ich jemanden mochte, war das meinem Bericht anzumerken. Dass dies nicht immer der Fall war, konnte Micha auch erkennen. Es funktionierte und ich funktionierte.
    Die Drogensache wurde nicht wieder angesprochen. Von mir nicht, weil ich nichts Signifikantes beobachtete, und von ihm nicht, weil es sich nur um seine Legende gehandelt hatte. Micha würde wohl wissen, dass ich dies inzwischen durchschaut hatte. Genauso egal war es ihm aber auch. Seine Rechnung war aufgegangen: Hier saß ich also und beurteilte Menschen, die dies nicht wussten und nichts dagegen unternehmen konnten.
    Der Herbst schaffte mit seinem goldenen Nachmittagslicht und den herabfallenden Blättern in den verschiedensten Brauntönen einen wohltuenden Gegensatz zum Grau der Straßen und Häuserwände. Der Rasen hinter dem Haus unseres Treffpunkts war seit dem Hochsommer verbrannt, Wäsche flatterte im kühlen Wind an den Leinen. Ich klingelte nachdenklich und ging langsam die wenigen Treppenstufen hinauf und die paar Meter vom Hausflur in das kleine Zimmer. Doch plötzlich wurde ich hellwach.
    Auf meinem Stuhl – ich dachte tatsächlich kurz „mein“ Stuhl und war sogleich erschüttert über diese Art der Identifizierung – saß ein fremder Mann. Micha saß ihm gegenüber. Er drehte sich zu mir um und lächelte verbindlich.
    „Wir sind heute zu zweit.“
    Das kann ich sehen, dachte ich, und ging auf den Unbekannten zu, um ihn zu begrüßen. Er stand auf, nahm meine Hand, schüttelte sie und stellte sich vor:
    „Ich bin der Gerd.“
    Ich nickte und sagte nichts.
    „Das mag Ihnen jetzt komisch vorkommen“, fuhr der Gerd leutselig fort, „aber heute geht es um etwas, das in mein Gebiet fällt.“
    Oha, dachte ich, was soll das jetzt? Ich fühlte mich unwohl.
    „Um gleich auf den Punkt zu kommen“, half ihm nun Micha, „es kursieren verschiedene Gerüchte über deinen Lebensgefährten.“
    Ich zuckte innerlich zusammen und verspürte den Drang, auf die Toilette zu gehen. Mein Herzschlag wurde schneller und ich versuchte zugleich, so gelassen wie möglich zu wirken. Ich schürzte die Lippen und pustete die Luft hörbar aus dem Mund. Wenn ich das bei anderen sah, wirkte es immer irgendwie cool und unberührt, als ließen sie sich gutmütig herab, mal über ein Problem nachzudenken.
    „Tja?“, begann ich so nebenbei wie möglich, „was wird denn so erzählt?“
    Jetzt war der Gerd wieder dran, es war ja auch sein Gebiet, wie er gesagt hatte.
    „Da ist vom Fleischhandel die Rede“, begann er und mir fiel ein Stein vom Herzen.
    Bei Pauls reger Geschäftstätigkeit hätte es auch ein brisanteres Gebiet sein können. Hierauf aber war ich einigermaßen vorbereitet.
    „Es gibt Beobachtungen. Er beliefert einige arabische Botschaften direkt und nimmt auch Bestellungen in der Kristallbar entgegen.“ Der Gerd machte eine Pause und sah mich fragend an: „Sie waren wohl auch schon

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