STASIRATTE
eine endlos lange Einkaufsstraße entlang. Bunte Reklame, Schriftzüge, Blumenkübel vor den Cafés, Tische und Stühle vor den Restaurants, Menschen, andere Linienbusse mit Werbeaufschriften, Litfasssäulen, Plakatwände, die Veranstaltungen ankündigten, Blumenläden, deren Ware den Bürgersteig überschwemmte, Schuhläden, die ihre Regale vor die Tür stellten, Leute mitbunten Plastiktüten, eine Unmenge Autos unterschiedlicher Fabrikate, Fußgänger verschiedener Nationalitäten, Touristengruppen mit Fotoapparaten, Schaufenster, beigefarbene Taxis mit Werbung ... Ich konnte mich nicht sattsehen.
Von den unzähligen Eindrücken ganz benommen fragte ich mich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis auf der anderen Seite annähernd dieser Standard erreicht sein würde. War das hier nur Oberfläche, nur schöner Schein? Meine Quellen waren die jahrelange Berichterstattung mittels Fernsehen, Freunden und Verwandter. Nach einem ersten eigenen Erleben wusste ich:
Ich war von der Stagnation in den Fortschritt gereist.
Unser Bus hatte soeben die Hälfte seiner Fahrgäste abgeladen, als in meinem Blickfeld die berühmteste Kirche meiner Postkartensammlung auftauchte. Groß, dunkel und mahnend stand die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche neben ihrem modernen blau glasigen Glockenturm. Unweit davon stand das Original eines weiteren beliebten Kartenmotivs mit einem Mercedesstern auf dem Dach.
Hier wurde es für uns Zeit auszusteigen. Nachdem ich ausführlich in alle Himmelsrichtungen gesehen hatte, betraten wir das Europacenter, und es bot sich ein Anblick hinauf durch mehrere offene Etagen, deren Galerien man durch Rolltreppen erreichen konnte. Durch den überwiegenden Einsatz von gläsernen Materialien wirkte alles durchscheinend und leicht, als könnte man von überall nach überall sehen, durch Geschäfte, Läden, Cafés, Bars, Restaurants. Jetzt wünschte ich mir zum ersten Mal, Paul wäre hier und könnte das alles sehen und mit mir erleben. Es würde schwierig werden, davon in aller Genauigkeit zu berichten.
Um einen Plan für die nächsten Stunden zu machen, setzten wir uns zunächst in ein Café, das über mehrere Terrassen angelegt undüber einen Holzbohlensteg zu erreichen war, der über ein Wasserbecken führte. In diesem Becken fingen große silbrige Metallblätter das Wasser auf, das über ihnen wippende Blütenkelche hinabgossen. Wurde das Blatt zu schwer, floss das Wasser ins Becken und wurde wieder in den Brunnen hochgepumpt.
Wir bestellten und während wir auf unsere Getränke warteten, fragte mich Klaus: „Und, hast du es dir so vorgestellt, hier bei uns?“ Was für eine Frage. Ich hatte in der Vergangenheit so viel Zeit gehabt, mir immer wieder vorzustellen, auch einmal hier zu sein und zu erleben, was ich aus Erzählungen, vom Fernsehen und von Bildern kannte. „Es ist überwältigend und auch irgendwie zu viel auf einmal. Es ist so vieles da, was ich mir merken will, aber das wird nicht gehen, es ist kolossal, wunderbar ...“ Ich seufzte überfordert.
Zu meiner überschäumenden Begeisterung fiel mir der Ausspruch „Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten“ ein und ich nahm mir vor, nicht völlig unkritisch zu sein. Würde ich in den paar Tagen auch den Schatten sehen? Seit frühester Jugend war ich an die hohlen Phrasen der Partei- und Staatsführung vom „baldigen Untergang des kapitalistischen Systems“ gewöhnt. Sie hatten uns diese These vorgesetzt, ohne dass wir uns ein Bild machen konnten. Ich würde die Gelegenheit jetzt nutzen.
Bevor wir uns endgültig ins Einkaufsgetümmel stürzten, fuhren wir hinauf zur Aussichtsplattform des Europacenters.
Von hier oben hatten wir einen guten Überblick über die Stadt. Ich sah die weite grüne Fläche des Tiergartens und den angrenzenden Zoologischen Garten, das Rollfeld des Flughafens Tempelhof, Hochhäuser und Schornsteine, Straßenfluchten und Kirchen und ... plötzlich stockte mein Blick und war wie festgeklebt.
Da stand er: groß, schlank, erhaben und unverwechselbar. Ich sah ihn und plötzlich mischte sich in meine ganzeEuphorie ein leises Gefühl der Wehmut und ich spürte einen Kloß im Hals. Alles andere zog sich für diesen Moment aus meinem Blickfeld zurück und ich sah nur dieses Bauwerk. Stolz und unbewegt, als könne er über alles hinwegsehen, über menschliche Schwächen und Ideologien, über Mangel und Konsumrausch, grüßte mich der Fernsehturm aus meiner Heimat, die sich seit sechsunddreißig Stunden
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