StatusAngst
seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eisigen Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllo sen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.«
In seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) hatte Kant argumentiert, sittliches Verhalten gegen andere Menschen erfordere, sie »für sich« zu achten, statt sich ihrer als »Mittel« zur Bereicherung oder zum eigenen Ruhm zu bedienen. Unter Berufung auf Kant warf Marx nun der Bourgeoisie und ihrer neuen Wissenschaft, der Ökonomie, vor, »Sittenlosigkeit« in großem Maßstab zu betreiben. »Aber die Nationalökonomie kennt den Arbeiter nur als Arbeitstier, als ein auf die striktesten Leibesbedürfnisse reduziertes Vieh.« Die Löhne für die Arbeiter, so Marx weiter, seien lediglich »wie das Öl, welches an die Räder verwandt wird, um sie in Bewegung zu halten«. Der wahre Zweck der Arbeit, so Marx, sei nicht mehr der Mensch, sondern das Geld.
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Marx mag ein schlechter Historiker gewesen sein, indem er die vorindustrielle Vergangenheit idealisierte und die Bourgeoisie in Bausch und Bogen verdammte, doch seine Thesen bleiben durchaus von Interesse, insofern sie den unausweichlichen Konflikt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in fesselnder Weise dramatisieren.
Ungeachtet aller regionalen Unterschiede und egal wie ein Unternehmen gebaut und geführt ist, liegt ihm stets eine simple und nüchterne Gleichung zu Grunde:
Aufwand Ertrag
Rohstoffe + Arbeit + Technik = Produkt + Profit
Jeder Produzent wird versuchen, Rohstoffe, Arbeitskraft und Technik zum geringstmöglichen Preis zu bekommen und daraus ein Produkt zu erzeugen, das er zum höchstmöglichen Preis verkaufen kann. Aus ökonomischer Sicht bestehen keinerlei Unterschiede zwischen den einzelnen Elementen der Aufwand-Seite. Sie sind Güter, die zwecks Erzeugung von Profit möglichst billig erworben und möglichst effizient genutzt werden müssen.
Doch beunruhigenderweise gibt es einen Unterschied zwischen der »Arbeit« und den anderen Elementen der Gleichung, den die herkömmliche Ökonomie weder erfassen noch angemessen gewichten kann, der aber trotzdem nicht aus der Welt zu schaffen ist: der Umstand, dass »Arbeit« Schmerz kennt.
Wenn Fertigungsstrecken nicht mehr rentabel arbeiten, kann man sie abschalten, ohne einen Aufschrei wegen des vermeintlichen Unrechts befürchten zu müssen. Eine Firma kann vom Kohlebetrieb auf Erdgasbetrieb umsteigen, ohne dass die ausgemusterte Energiequelle vor Verzweiflung von der Brücke springt. »Arbeit« hingegen nimmt die Versuche, ihren Preis oder ihr Ausmaß zu reduzieren, nicht gleichgültig hin. Sie verbarrikadiert sich schluchzend in Toilettenkabinen, säuft gegen ihre Versagensangst an und schickt sich womöglich lieber in den Tod als in die Entlassung.
Die Reaktionen verweisen auf zwei gegensätzliche Gebote auf dem Schauplatz des Kampfes um Status — den ökonomischen Imperativ, demzufolge es in erster Linie um die Profitmaximierung geht, und den menschlichen Imperativ, der Arbeitnehmer veranlasst, um ihre soziale Sicherheit zu bangen und um Anerkennung ihrer Bedürfnisse zu ringen.
Obwohl beide Imperative über lange Strecken friedlich koexistieren können, verlieren die lohnabhängig Beschäftigten niemals ihre Angst, denn sie wissen, dass der ökonomische Imperativ, wenn es hart auf hart geht, in einer Marktwirtschaft obsiegen muss.
Der Kampf zwischen Arbeit und Kapital wird, zumindest in den moderneren Industrieländern, nicht mehr mit derselben Härte ausgetragen wie ehedem. Doch die Arbeitnehmer bleiben trotz aller Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und gesetzlichen Regelungen weiterhin Werkzeuge einer Produktionsweise, in der ihr Glück und ihr materielles Wohlergehen höchstens eine Nebenrolle spielen. Egal wie kameradschaftlich das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, egal wie viel Einsatzbereitschaft die Belegschaft zeigt und wie viele lange Jahre sie geopfert haben: unter dem Strich bleibt die beängstigende Gewissheit, dass ihr
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