StatusAngst
Mann, um der honra würdig zu sein, körperlichen Mut und sexuelle Potenz beweisen, vor der Heirat musste er ein Frauenheld sein, in der Ehe ein treuer Gatte, der seine Familie versorgte und darauf sah, dass ihn seine Frau nicht mit anderen Männern betrog. Der Ehrverlust drohte ebenso dem, der den Normen nicht genügte, wie dem, der nicht gewaltsam genug auf eine Kränkung reagierte. Wer auf dem Marktplatz verspottet oder auf der Straße schief angesehen wurde, dem blieb zur Rehabilitierung nur die Herausforderung zum Kampf.
3
Obwohl wir es normalerweise ablehnen, auf Ehrverletzungen mit Gewalt zu reagieren, müssen wir das wichtigste Motiv derer, die so handeln, auch bei uns selbst vermuten — die extreme Empfindlichkeit gegenüber der Geringschätzung durch andere. Wir gleichen dem heißblütigsten Duellanten darin, dass unsere Selbstachtung in hohem Maße davon abhängt, was andere von uns denken. Das Duell ist nur ein hübsch weit hergeholtes historisches Beispiel dafür, wie empfindlich wir auf die vermeintliche Bedrohung unseres Status reagieren.
Das Verlangen, einen günstigen Eindruck zu erwecken, nimmt nach wie vor einen hohen Stellenwert ein. Und die Angst, zu dem zu werden, was die Spanier deshonrado nannten, entehrt, auf unsere heutige Zeit übertragen vielleicht am ehesten vergleichbar mit dem so rüde wegwerfenden »Loser«, plagt uns nicht minder als die Gestalten in den Tragödien von Calderön und Lope de Vega.
Dass man uns Status abspricht, weil wir etwa bestimmte Karriereziele verfehlt haben oder unsere Familie nicht ordentlich ernähren können, kann genauso schmerzhaft für uns werden wie der Verlust von honra, tîmê, sharaf oder izzat in den alten Zeiten.
Philosophie und Unverletzlichkeit
Zudem sind die Köpfe der Menge ein zu elender Schauplatz, als dass auf ihm das wahre Glück seinen Ort haben könnte.
Schopenhauer, Parerga und Paralipomena (1851)
Die Natur sagte mir nicht: »Sei arm!« und auch nicht: »Werde reich!«, sondern sie fleht mich an: »Bleibe unabhängig!«
Chamfort, Maximen (1795)
Nicht mein Platz in der Gesellschaft macht mich reich, sondern meine Erkenntnisse; und diese kann ich bei mir tragen ... Sie allein sind mein Eigentum, und niemand kann sie mir nehmen.
Epiktet, Unterhaltungen (um 100 n. Chr.)
1
Am Anfang des 5.Jahrhunderts v.Chr. gab es in Griechenland eine Gruppe zumeist bärtiger Individuen, die sich erstaunlich frei von den Statusängsten zeigten, die ihre Mitmenschen so quälten. Diese Philosophen störten sich nicht an den psychischen und materiellen Folgen ihres niederen sozialen Ranges; weder Armut noch Beleidigung oder Schelte konnten ihnen etwas anhaben. Als Sokrates einen Festzug in den Straßen Athens verfolgte, bei dem Berge von Gold und Edelsteinen mitgeführt wurden, rief er: »Seht nur, wie viele Dinge es gibt, die ich nicht brauche!« Als Alexander der Große durch Korinth kam, besuchte er den Philosophen Diogenes und fand ihn zerlumpt und völlig mittellos unter einem Baum sitzend. Alexander, der mächtigste Mann der Welt, fragte, ob er irgendetwas für ihn tun könne. »Ja«, erwiderte Diogenes, »du könntest so gut sein und mir aus der Sonne gehen.« Alexanders Soldaten zuckten zusammen und erwarteten einen seiner gefürchteten Wutausbrüche. Aber der lachte nur und erwiderte, er würde, wäre er nicht Alexander, gewiss gern Diogenes sein. Dem Philosophen Antisthenes kam zu Ohren, dass viele Athener ihn verehrten. »Wieso?«, fragte er, »was habe ich falsch gemacht?« Empedokles hatte eine ähnlich hohe Meinung von der Intelligenz seiner Zeitgenossen. Einmal lief er am hellichten Tage mit einer Lampe umher und sagte: »Ich suche einen Menschen mit Verstand.« Ein Mann beobachtete, wie Sokrates auf dem Markt verspottet wurde, und fragte ihn: »Ärgert es dich nicht, von den Leuten beschimpft zu wenden?« Sokrates antwortete: »Warum sollte ich's einem Esel verübeln, wenn er mich tritt?«
2
Natürlich hatten diese Philosophen nicht aufgehört, zwischen Spott und Ehrerbietung, zwischen Erfolg und Misserfolg zu unterscheiden. Sie verstanden es lediglich, die finstere, keineswegs tradierten Ehrvorstellungen geschuldete Gleichung aufzulösen, derzufolge ihr Selbstbild durch die Meinung der anderen determiniert werde und derzufolge Kränkung, ob zu Recht oder zu Unrecht vorgebracht, Schande bedeute.
Ehrenbeziehungen
Die Philosophie hat eine weitere Größe in die
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