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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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Beziehung zur Fremdmeinung eingeführt, die man sich als Kasten vor-
    stellen kann, in dem alle fremden Urteile, positiv oder negativ, einer Prüfung unterzogen werden und mit verstärktem Nachdruck ins Selbstbild einfließen, wenn sie als zutreffend anerkannt werden, oder mit einem Schulterzucken abgetan werden, wenn sie falsch sind. Die Philosophen nannten diese Größe »Vernunft«.
     
    Intellektuelles Urteilsvermögen

     
    Den Regeln der Vernunft zufolge gilt eine Schlussfolgerung dann und nur dann als wahr, wenn sie das Ergebnis logischer gedanklicher Schritte auf der Grundlage korrekter Prämissen darstellt. Philosophen, denen die Mathematik als Inbegriff sauberen Denkens erschien, versuchten die Annäherung an mathematische Objektivität auch auf dem Gebiet der Ethik. Dank der Vernunft, so die Philosophen, kann unser intellektuelles Urteilsvermögen über unseren Status entscheiden, so dass wir nicht den Launen und Verdikten des Marktplatzes ausgeliefert sind. Und wenn die Vernunft besagt, dass wir von der Menge ungerecht behandelt werden, empfehlen uns die Philosophen, auf ihr Urteil zu reagieren wie auf einen irregeleiteten Menschen, der uns weismachen will, zweimal zwei sei fünf.
    Der Kaiser und Philosoph Mark Aurel ermahnt sich in seinen Betrachtungen (167 n.Chr.) ständig, die Urteile über seinen Charakter und seine Verdienste, die ihm in der schmutzigen Welt der römischen Politik zu Ohren kamen, auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, bevor er ihnen Glauben schenkte. »[Dein Anstand] hängt nicht von den Bekundungen anderer ab«, betonte er und stellte damit die allgemeine Gepflogenheit in Frage, den Wert eines Menschen aus seinem Ansehen abzuleiten. »Wird das, was gelobt wird, besser? Wird ein Smaragd schlechter, wenn er nicht gepriesen wird? Und wie verhält es sich bei Gold, Elfenbein, einer Blume oder einem Pflänzchen?« Statt sich vom Lob verführen zu lassen oder sich bei Schmähungen gekränkt zurückzuziehen, empfahl Mark Aurel, sich am eigenen Selbstbild zu orientieren: »Will jemand mich verabscheuen, so möge er das tun. Ich aber werde darauf sehen, dass ich nichts sage oder tue, was Abscheu verdient.«
     

 
3
     
    Wir sollten daraus nicht folgern, dass die Kritik oder Ablehnung durch andere grundsätzlich unzutreffend ist. Die Prüfung unseres Werts durch das eigene Urteilsvermögen sollte nicht mit der Erwartung bedingungsloser Liebe verwechselt werden. Anders als unsere Eltern und Liebhaber, die uns trotz unserer Fehler schätzen, egal was wir tun, knüpfen die Philosophen Liebe weiterhin an Bedingungen, wenn auch nicht an die schwankenden, unvernünftigen Kriterien, deren sich die große Mehrheit so gern bedient. Es kann sehr wohl passieren, dass das Urteilsvermögen fordert, strenger mit uns selbst zu sein, als es die anderen sind. Statt die Hierarchie von Erfolg und Misserfolg gänzlich abzulehnen, verändert die Philosophie lediglich den Urteilsprozess. Sie ermöglicht die Erkenntnis, dass das allgemeine Wertsystem Menschen ebenso zu Unrecht verdammt, wie es andere zu Unrecht in den Himmel hebt, und damit verhilft sie uns im Falle, dass uns eine Ungerechtigkeit widerfährt, zur Gewissheit, dass wir auch ohne das Lob der Allgemeinheit liebenswerte Menschen sein können.
     
     
4
     
    Die Philosophie leugnet auch keineswegs den Nutzen gewisser Ängste. Erfolgreiche Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden, behaupten schon lange, dass gerade die Ängstlichen dem Leben am besten gewachsen sind.
    Doch wenn wir von nützlichen Ängsten sprechen, müssen wir auch konstatieren, dass andere Ängste unserem Streben nach Sicherheit und menschlicher Entfaltung entgegenstehen. Wir können neidisch auf Privilegien oder Besitztümer anderer sein, die uns unglücklich machen würden, wenn wir sie besäßen. Wir können Ambitionen entwickeln, die sich nicht mit unseren realen Bedürfnissen decken. Ließen wir unseren Emotionen und Wünschen freien Lauf, richteten sie sich vermutlich mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit auf Leichtsinn, unbeherrschbare Wut, Selbstzerstörung wie auf Gesundheit und Tugendhaftigkeit. Da »überschießende« Emotionen zumeist ihr Ziel verfehlen, raten uns die Philosophen, sie der Kontrolle des Verstandes zu unterwerfen und uns die Frage zu stellen, ob das, was wir wollen, wirklich das ist, was wir brauchen, und ob das, wovor wir Angst haben, wirklich das ist, wovor wir Angst haben müssen.
    Aristoteles bietet in seiner Eudemischen Ethik (um 350 v. Chr.) Beispiele

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